Der Begriff da-shealladh (wird ungefähr »Dej-hejlouw« ausgesprochen) lässt sich häufig als »zweite Sicht« übersetzen, was buchstäblich »zwei Sichten« bedeutet. Er bezieht sich auf die Fähigkeit, Erscheinungen von Lebenden und Toten zu sehen. Der taibshea r (»Teischer« ausgesprochen) ist der Seher, der sich darauf spezialisiert, das Energiedoppel (taibhs ) zu beobachten. Ein Traum oder eine Vision ist ein bruadar (»Bru-itar«). Der bruadaraiche (ungefähre Aussprache: »Bru-i-teretscher«) ist mehr als nur ein Träumer im gewöhnlichen Sinne. Er ist die Art von Träumer, der in die Vergangenheit oder Zukunft sehen kann. Das ist ein Kleinod, das der näheren Untersuchung wert ist. Die Tiefe des Praktizierens von Träumen in einer Kultur spiegelt sich in ihrem aktiven Vokabular für solche Dinge. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob die heutige deutsche Sprache ein einziges Wort zur Verfügung stellt, das so reichhaltig wäre wie bruadaraiche, aber ich bezweifle, ob wir den schottischen Begriff importieren können, da er (zumindest so, wie er von meiner Zunge rollt) nach etwas klingt, das in einem Schafsmagen gekocht worden ist.
Die hawaiische Sprache bietet ein reichhaltiges Traumvokabular, das sich wunderbar für eine Studie eignet. Ein generelles Wort der Hawaiianer für Träume ist moe’ukane, das sich allgemein mit »Seelenschlaf« übersetzen lässt, jedoch eher als »Nacherlebnisse der Seele« verstanden wird, da es für die ursprünglichen Hawaiianer beim Träumen stark um das Reisen geht. Die Seele macht im Schlaf Ausflüge. Sie schlüpft aus ihrem normalen Körper - häufig durch den Tränenkanal, der auch als »Seelengrube« bezeichnet wird - und ist dann in einem »Körper aus Wind« unterwegs. Während dem Schlaf wird der Träumer auch von Göttern ( akua ) und Schutzgeistern der Ahnen ( aumakua ) aufgesucht, die die Gestalt eines Vogels, eines Fischs oder einer Pflanze annehmen können.
Wie alle praktischen Träumer erkennen die Hawaiianer, dass es große und kleine Träume gibt. Einem »Traum über einen wilden Meerbarben« ( moe weke pahulu ), der verursacht wird, wenn man etwas Falsches gegessen oder sein Essen zu schnell heruntergeschlungen hat, sollte man keine große Bedeutung beimessen. Der Ausdruck leitet sich von der weit verbreiteten Überzeugung ab, dass man krank wird und schlechte, wenn auch bedeutungslose Träume hat, wenn man Meerbarbenköpfe in der falschen Jahreszeit verspeist. Andererseits sollte man erkennen, dass ein Traum die Erinnerung an eine Reise in die Zukunft und damit äußerst wichtige praktische Informationen enthalten kann. Vor allem der »eindeutige« Traum ( moe pi’i pololei ), der klar ist und keiner Deutungen bedarf, ist besonders hilfreich.
Es gibt auch »Wunschträume« ( moemoea ), die einem etwas aufzeigen, wonach man sich sehnt. Dies kann in der normalen Realität erreichbar oder auch unerreichbar sein. Es gibt »Enthüllungen der Nacht« ( ho’ike na ka po ), die die Macht der Prophezeiung in sich bergen. Eine hochinteressante Kategorie hawaiischer Träume besteht aus Prophezeiungen, die als Geschenke der Schutzgeister unter den Ahnen angesehen werden und die Heilung der Beziehungen innerhalb einer Familie oder Gemeinschaft bewirken sollen. Träume werden außerdem von den aumakua zur Förderung der persönlichen Heilung geschickt.
Die Geister der Vorfahren vermitteln auch »Nachtnamen« (inoa po ) für ungeborene Säuglinge, und es kursieren Warngeschichten über drohendes Unglück, das eintrifft, wenn die Eltern den Namen des Babys ignorieren, der ihnen in einem Traum mitgeteilt wurde. Die Hawaiianer achten ganz besonders auf Visionen, die in der Phase zwischen Schlaf und Erwachen auftauchen ( hihi´o ). Sie halten es für äußerst wahrscheinlich, dass solche Visionen klare Kommunikationen der Geister und »eindeutige« Einblicke in kommende Ereignisse enthalten.
In unseren Traumreisen können wir mit einem »Traummann« ( kane o ka po ) oder einer »Traumfrau« ( wahine o ka po ) zusammentreffen. Das mag zwar angenehm und sogar verlockend sein, doch die hawaiische Folklore lehrt, Vorsicht walten zu lassen. Wenn man zu viel Zeit außerhalb seines irdischen Körpers in seinem »Körper aus Wind« verbringt, könnte der physikalische Organismus geschwächt und schlapp werden. Außerdem sollte man sich vor Täuschern hüten, die die Gestalt verführerischer Sexpartner annehmen können, doch in Wahrheit etwas ganz anderes sind - nämlich trickreiche mo’o , eine Art Wasserkobold.
Wir sollten aus unseren saftigsten Träumen Energie für unser verkörpertes Leben schöpfen, statt sie dort zu lassen. Eine beliebte hawaiische Legende berichtet, wie eine Göttin das geschafft hat. Pele wurde auf ihrer Vulkaninsel durch rhythmisches Trommeln in der Ferne aufgeschreckt. Sie befahl ihren Dienern, sie drei Tage lang auf keinen Fall zu wecken, und ließ ihren Körper auf ihrem Bett aus Lava zurück. Dann reiste sie in ihrem »Körper aus Wind« so weit, bis sie schließlich die Quelle des magischen Trommelns fand: es war ein Luau-Fest, das ein stattlicher Prinz abhielt. Die Göttin und der Prinz verliebten sich und machten drei Tage lang stürmische Liebe. Anschließend kehrte Pele in den Körper zurück, den sie auf ihrem Lavabett zurückgelassen hatte. Da sie eine Göttin war, konnte sie arrangieren, dass ihr Prinz nach Big Island gebracht wurde, wo er fortan als ihr Begleiter mit ihr lebte. Für uns Menschen mag sich diese Art des Transfers zwar schwieriger gestalten, aber einen Versuch ist es immer wert! 6
AUF DEN KORRIDOREN VON LEBEN UND TOD
Ich teile seit mehr als zwanzig Jahren Träume und Abenteuer mit Carol. Sie ist eine der Schwestern, die ich nie hatte, nach denen ich mich als Junge aber immer gesehnt habe. Als ich sie dann fand - und als Seelenschwester erkannte -, wurde eine Lücke in mir gefüllt. Wir sind die schmalen Grate der Erde miteinander gegangen. Wie so viele begabte schamanische Heiler hat Carol ein Kindheitstrauma überlebt. Wie so viele begabte Berater und Therapeuten gibt sie ihren Klienten den Willen und die Fähigkeit, Heilkräfte aus einer tieferen Quelle zu schöpfen, aus jener Tiefe, die sie »Das Mehr« des Lebens nennt.
Carol, die eine überzeugte Christin ist, war immer bereit, die schwierigsten Fragen zu stellen und sich ihnen zu stellen, wie zum Beispiel: Wo ist Gott, wenn guten Menschen schlimme Dinge zustoßen? Oder: Was passiert mit Tätern, wenn sie sterben und diese Welt unverändert verlassen?
Die folgende Geschichte gibt eine Antwort auf die letztere Frage. Sie kommt aus den Kräften der tieferen Welt, die uns durch Träume zugänglich wird. Die Geschichte erinnert uns daran, dass uns Hilfe und Seelenheilung immer zur Verfügung stehen. Sie ist ein weiteres Beispiel dafür, wie Träume die Tore zu tieferen Welten und einer tiefgreifenderen Lenkung sein können, wenn wir nur bereit sind, wieder durch diese Tore zu gehen.
Am Ende eines Sommers fand Carol eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter vor, die ihr mitteilte, dass ihr Freund Patrick an AIDS gestorben war. Während sie in dieser Nacht trauernd im Bett lag, hörte sie ein Geräusch im Zimmer und fühlte, dass jemand da war. Sie wusste jedoch, dass sie vor Einbrechern sicher war, und ließ sich schließlich in den Schlaf sinken. Als sie in der Morgendämmerung aufwachte, hörte sie wieder ein Geräusch und achtete darauf. Wie ihr klar wurde, war ihr Freund Patrick bei ihr. Er sagte ihr: »Ich habe ein Vermächtnis für dich. Sieh unter meinen alten Briefen nach.« Sie sagte ihm, dass sie alle alten Briefe weggeworfen hatte und nicht glaubte, noch Briefe von ihm zu haben. »Dann sieh in deinen alten Tagebüchern nach«, wies der freundliche Geist sie an.
Als Carol das tat, fand sie einen alten Brief von Patrick, den er (wie er erwähnte) bei Sonnenaufgang über zehn Jahre zuvor geschrieben hatte. Es war eine lyrische Schilderung seiner Gefühle, während er die Sonne über dem Meer aufgehen sah, ein Gefühl der Weite in ihm, das »dem Atem des Horizonts« begegnete.
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