In Sitkas zerklüfteter Bucht ist es windstill, herrlich warm wie im besten deutschen Hochsommer, und der Himmel über dem einstigen „Paris des Nordens“ ist blitzblank geputzt. Grüne Kegelberge kennzeichnen den Vordergrund, dahinter erheben sich die weißen Spitzen ihrer großen Brüder. Von der Anlegestelle bis in die Stadt sind es 11 km, und es erscheint praktisch, von den 4 Stunden Liegezeit die gute Hälfte für eine angebotene Rundtour zu verwenden, um die wichtigsten Sehenswürdigkeiten gezielt ansteuern zu können. Sehr viel davon hat der Ort, der als Indianerdorf Shee Attika begann ehe russische Pelzjäger 1799 in der Nachbarschaft ihr Fort St.Michael erbauten, ohnehin nicht zu bieten. Das Schönste ist eigentlich seine landschaftliche Lage, mit Booten, die in der Bucht schaukeln, den Bergen des Tongass-Waldes, dem Vulkankegel Mount Edgecumbe, 3.271 Meter hoch und vor 8.000 Jahren letztmalig ausgebrochen, und den goldenen Kreuzen der St.Michaels Kathedrale. Der Ort selbst macht einen sehr angenehmen, freundlichen Eindruck, und die meisten Geschäfte im Zentrum dienen dem Tourismus, wobei das angebotene indianische Kunsthandwerk auch hier hohe Qualität besitzt und entsprechend ausgepreist ist. Das absolute Muss in der Stadt ist natürlich die Kathedrale – ein echter Nachbau des 1966 abgebrannten orthodoxen Originals -, das 1844 bis 1848 hier entstanden war. Die erste Kirche ihrer Art in Nordamerika war sie allerdings nicht, denn die wurde bereits 1774 auf Kodiak Island erbaut. Der Stolz des Sitka-Gotteshauses sind seine wertvollen Ikonen, gegen die sich das Äußere des Holzbaues mit seinem Grau-Weiß und den beiden grünen Türmen, auf denen zwei goldene Kreuze glänzen, eher bescheiden darstellt, und die kleine St.Peter’s By the Sea Episcopal Church verträumter und romantischer wirkt. Historisch sind unweit der Cathedrale der alte russische Friedhof – die Frau des letzten russischen Gouverneurs, Prinzessin Maksutov ruht hier – und der Castle Hill. Auf diesem stand einst die Residenz des russischen Gouverneurs Baranof, dessen Einzugsgebiet von den Aleuten-Inseln bis in die Gegend von San Francisco reichte, wo sich die Russen nördlich davon im Fort Ross etabliert hatten. In dessen Mauern wurde 1867 auch der Verkauf Alaskas an die USA zelebriert, nachdem William Seward den amerikanischen Kongress vom Erwerb hatte überzeugen können, und die 7,2 Millionen Dollar für „Sewards-Icebox“ bei den Russen eingegangen waren.
Heute hält der Tourbus auf dem Hügel nur noch wegen der guten Aussicht, und für mehr Vergangenheit muss man sich im Visitor Center des Sitka National Historical Parks den dort gezeigten Displays zuwenden. An gleicher Stelle kann man in den zugehörenden Werkstätten auch den Künstlern – Schnitzer, Silberschmieden, Schneidern – bei ihren traditionellen Arbeiten über die Schulter schauen. Pflicht sind auch die Totempfähle der Tlingit und Haida, die über einen Wiesenweg im Regenwald zu erreichen sind und dort in der Gesellschaft von gewaltigen Zedern und Sitkafichten wie Geister wirken. Ihr Blick geht in Richtung der ankommenden Kreuzfahrtliner und bewirkt vielleicht auch, dass die New Archangel Dancers in der Harigan Centennial Hall von diesen Touristen genug Zuspruch erhalten, wenn jene ihre russischen Volkstänze darbieten. Am Ende der kleinen Halbinsel verdient auch noch der „Battle Ground“ – eine Wiese im Wald – einen Gedanken, denn hier wurde 1804 die letzte Schlacht zwischen Baranof und den Kiksadi-Tlingit Indianern geschlagen, die schon 1802 das Fort zerstört hatten und die Russen zurückschlugen. Nach einer Woche Beschuss durch die Fregatte Neva blieb aber auch diesen Eingeborenen letztlich nur noch der Rückzug. Sehenswert ist auch das 1842 erbaute Russian Bishop’s House, das als Zentrum der russisch orthodoxen Kirche fungierte und 1969 geschlossen wurde. 48 Monate später begann bereits eine 16 Jahre andauernde Rekonstruktion, um das Gebäude wieder so herzustellen, wie es sich 1853 darbot. Heute ist es eins von vier verbliebenen russischen Colonial-Architekturen in Nordamerika und verkörpert die dominierende Herrschaft der Russen im Nordpazifik für mehr als 125 Jahre. Und was hat die 9.000-Einwohnerstadt, deren Hafen als der geschäftigste an der Ostseite des Pazifiks in Alaska gilt, als größte des Alexander Archipels noch anzubieten? Je drei Häfen, Campingplätze, Flugplatz und Alaskas einzige, zur Universität gehörende Bowling Akademie. Im Sheldon Museum wird Völkerkunde geboten und, in dessen Shop, sehr gutes Kunsthandwerk verkauft. Gefeiert wird auch hier: Im Juni musizieren etwa 25 Künstler aus Asien, Europa und Nordamerika beim Musik Festival, und Anfang November werden die etwa 80 Buckelwale bejubelt, die alljährlich von Mitte September bis Mitte Januar im Haven „parken“, um anschließend ihre Reise in die Tropen fortzusetzen, wo sie ihre Jungen gebären und sich paaren. Stars in Südostalaska sind auch Bären, Otter und andere Vierbeiner, denn ein reichhaltiges Nahrungsangebot und niedrige Bevölkerungszahlen machen diesen Landstrich zu einem der besten Plätze für diese Tiere. Auch die Lachse und der Regenwald gehören zu den lokalen Attraktionen wie die Charterboote, die die dortigen Hütten erschließen. Für uns reicht die Zeit aber nur noch für ein paar schnelle Schritte zur O’Connell Brücke, um das Foto von der Waterfront und dem Hafen mit nach Hause nehmen zu können, denn dann heißt es, sicherlich auch für immer, Abschied zu nehmen von dem Städtchen mit dem freundlichen Flair, das heute vom Tourismus, der Holzverarbeitung und der Fischerei lebt. Es ist auch ein Abschied vom Herz der Geschichte Alaskas, denn hier unterhielt die Russian-American-Company schon eine geschäftige Ansiedlung, baute Schiffe und trieb mit den Indianern Pelzhandel, als Chicago nur ein Blockhaus, und San Francisco nicht mehr als eine Missionsstation waren.
Wenn wir morgen früh Petersburg, das auf den Norweger Peter Buschmann zurückgeht, der 1897 mit Sägewerk und Fischkonservenfabrik den Grundstein legte, gegen drei Uhr erreichen, werden wir sicherlich noch schlafen, denn der Ort ist ohnehin nicht aufregend. Es sei denn, man begeistert sich für seine große Kutterflotte, die mit etwa 400 Booten nicht nur Heilbutt anlandet, oder man möchte unbedingt das wunderschöne Panoramafoto vom „Hammer Slough“ haben. Lohnenswert ist Letzteres auf alle Fälle, doch braucht es auch die passende Tages- und Liegezeit. Jetzt werden wir vom Rest des wunderschönen Tages noch etwas an der Reling verbringen und die an uns vorüberziehende Natur genießen, in der das Bergmassiv der Coast Mountains mit seinen schneebedeckten Gipfeln und eisblauen Gletschern den Blick weit in die Ferne lenkt. Aber auch das Schiff selbst, seine Fahrt durch das klare Wasser unter uns und der bezaubernde Abendhimmel, dessen Färbung von Türkis bis zu hellem, klarem Blau ganz oben reicht, fesseln Gedanken und Blick. Dazwischen glänzen, von der tief stehenden Sonne angestrahlte, vereinzelte hohe Wolken in zartem Gelb-Rosa. Die leichte Brise, das eintönige Rauschen des durchpflügten Wassers und die fast greifbare Ruhe und Unendlichkeit fesseln ebenfalls. Derartige Momente beeindrucken, machen zufrieden aber auch nachdenklich und lassen vermuten, was die Suquamish-Indianer mit ihrem Sprichwort „ die Erde haben wir nicht von unseren Eltern geerbt, sondern von unseren Kindern geliehen“, gemeint haben könnten.
Gestern Abend habe ich meinen Wecker doch noch auf drei Uhr dreißig gestellt, denn die 37 Kilometer der kritischen Wrangell Narrows, die die Taku in den nächsten eineinhalb Stunden zwischen den Inseln Kupreanof und Mitkof passieren muss, wollte ich doch nochmals erleben. Die Passage wird sehr schnell gewaltig eng, und eine ganze Armada von Seezeichen weist den Weg. Oft bleiben nur eine schiffsbreite Rinne oder ein Slalom übrig, bei dem Bootsführer Kommandos schreien, mit langen Stangen hantieren oder Kuttersirenen aufheulen, um sich unserem Koloss gegenüber bemerkbar zu machen. Ich persönlich finde es grandios, wie sich die Taku „Schritt für Schritt“ durch dieses Gewirr aus Inseln und Stein windet, und danach sehr schön, dass ich mir nach der erheblichen Frische an der Reling die Bettdecke nochmals über die Ohren ziehen kann.
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