Das Unbewusste ist kein Ort, kein unheimlicher Dschungel, kein gefüllter Raum mit verdrängten und abgestellten Gedanken und Wünschen.
Der Mensch denkt, fühlt und handelt im Sinne seines Lebensstils. Das heißt, er lässt Dinge, die ihm angenehm erscheinen, vor dem Bewusstsein zu, andere Dinge, die ihm unlieb sind, denen er ausweicht, lässt er im so genannten Unbewussten verschwinden.
Wir haben uns so an die Unterscheidung zwischen Bewusstem und Unbewusstem gewöhnt, dass wir in der Tat an zwei verschiedene Bereiche glauben. Im Prinzip gibt es sie nicht. Nach Freud ist das Unbewusste das Verdrängte . Da für Adler im Gegensatz zu Freud das Ich keine Instanz neben Es und Über-Ich ist, sondern gleichbedeutend mit der Person, lehnt er den Gegensatz zwischen bewusst und unbewusst ab. Das Unbewusste meint nach unserer Sicht nicht versteckte Winkel unserer Seele, sondern Teile des Bewusstseins , die wir nicht verstanden haben.
Das Unbewusste ist also das Nicht-Zugelassene , das Vergessene, das Ausgeblendete, das dem Lebensstil nicht entspricht. Das Unbewusste ist die unverstandene Seite unseres Lebensstils; die unverstandenen Lebens-Grundüberzeugungen, Selbstannahme, Beziehungs- und Umgangsmuster verkörpern den Lebensstil. Dieser Lebensstil bleibt den meisten Menschen unbewusst bzw. unverständlich.
Der Lebensstil als unbewusster Lebensplan verfolgt Zwecke und Ziele, die dem Bewusstsein weitgehend unbekannt sind. Der Mensch verhält sich so, als ob er über seine Ziele bestens informiert ist.
»Der Mensch weiß mehr, als er versteht!« (Dies war ein Lieblingssatz Adlers.) Der Mensch weiß unermesslich viel über sich zu berichten, auch im Traum. Aber er versteht es nicht. Seine verborgenen Absichten sind ihm unbewusst. Er kann dieses Wissen verstehbar machen. Mithilfe eines Seelsorgers oder Beraters kann er diese verborgenen Schätze ins Licht des Bewusstseins heben.
Das Unbewusste ist also das Unerkannte, Unverstandene, Unverdaute und Ungeklärte. Das Unbewusste ist nicht die schweinische Rumpelkammer unserer Persönlichkeit, wo beschämende Wünsche und unsaubere Begierden verstaut werden.
Die meisten Berater, Therapeuten und Seelsorger, die sich mit Traumdeutungen beschäftigen, benutzen die Methoden der Assoziation (freie Verknüpfung von Gedanken, von denen einer den anderen hervorruft), um die Bilder, Symbole und Geschehnisse im Traum zu verstehen. Diese Methode wurde von Sigmund Freud in die Traumdeutung eingeführt und von den meisten Autoren übernommen. Freud schreibt darüber:
»Dieses Verfahren ist leicht zu beschreiben, wenngleich seine Ausführung Unterweisung und Übung erfordern dürfte. Wenn man es bei anderen, etwa einem Kranken mit einer Angstvorstellung in Anwendung zu bringen hat, so fordert man ihn auf, seine Aufmerksamkeit auf die betreffende Idee zu richten, aber nicht, wie er schon so oft getan, über sie nachzudenken, sondern alles ohne Ausnahme sich klarzumachen und dem Arzt mitzuteilen, was ihm zu ihr einfällt … Es mag also die Aussage genügen, dass wir bei jeder krankhaften Idee ein zur Lösung derselben hinreichendes Material erhalten, wenn wir unsere Aufmerksamkeit gerade den ›ungewollten‹, den unser Nachdenken störenden, dem sonst von der Kritik als wertlosen Abfall beseitigten Assoziationen zuwenden … Es müsste jedes Traumbeispiel sich in gleicher Weise dazu eignen.«8
Freud zerlegt den Traum in seine Teile, geht einzeln an alle Bruchstücke heran und fragt den Träumer nach seinen Assoziationen.
Selbst kritische Einwände, die der Träumer gegen seine eigenen Einfälle vorbringt, kommen zur Sprache. In diesen kritischen Einwänden wird laut Freud der Widerstand des Träumers deutlich, verdrängte Elemente zu offenbaren.
Auch Adler und andere Psychologen haben diese Technik grundsätzlich anerkannt und praktiziert. Sie birgt zudem folgende Vorteile:
In den Gedankenassoziationen kommen die zielgerichteten Vorstellungen des Träumers zur Sprache, denn der Träumer kann ja nichts anderes in seinen frei strömenden Einfällen beisteuern, als was in ihm angelegt ist.
In den Gedankenassoziationen kommt der Lebensstil dieses Menschen zum Tragen; ohne dass er sich darüber im Klaren ist, geben seine Einfälle das Bewegungsgesetz und die Grundüberzeugungen wieder.
In den Gedankenassoziationen kommen also keine objektiven Vorstellungen zur Sprache, sondern die Mittel, Ziele und Methoden dieses einmaligen Menschen.
Wie sieht die Assoziations-Methode praktisch aus?
Eine Frau träumt. Die ersten zwei Sätze dieses Traumes lauten:
»Es ist Winter. Ich gehe von zu Hause allein eine eisig glatte Straße hinauf.«
Der Berater und Seelsorger kann alle Traumelemente eingehend befragen.
»Sie sprechen vom Winter . Was fällt Ihnen dazu ein?«
»Sie gehen von zu Hause weg . Was empfinden Sie dabei?«
»Sie sind allein . Wie fühlen Sie sich?«
»Sie befinden sich auf einer eisig glatten Straße . Was löst das in Ihnen aus?«
»Sie gehen eine eisige glatte Straße hinauf. Was hat das alles mit Ihrem Leben und Empfinden von heute zu tun?«
Schon die beiden ersten Sätze sind eine gekonnte Verdichtung der gegenwärtigen Befindlichkeit dieser Frau. Der Traum präzisiert Gefühle, Gedanken und das Handeln der Träumerin. Die Assoziationen bringen ihren kompletten Lebensstil zur Sprache.
KAPITEL 5
Nackt- und Entblößungsträume
Kleider haben eine Bedeutung. Sie schützen den Menschen, sie verdecken ihn. Menschen, die sich eine Blöße geben, die entblößt werden, schämen sich. Entblößungsträume sind also Träume, die eng mit dem Schamgefühl des Menschen und mit seinen Schuldgefühlen verbunden sind. Menschen, die schnell und gern Dinge auf sich beziehen und Schamgefühle als bedrückend erleben, träumen häufiger von Entblößungen.
Die Freud’sche Psychoanalyse hat uns deutlich zu machen versucht, dass Nacktträume in der Regel mit sexuellen Gefühlen oder mit Schuldgefühlen wegen Sex zu tun haben. In Wirklichkeit geht es um die Frage, in welcher Weise der Ratsuchende sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nackt, enthüllt, verletzt, bloßgestellt oder ungeschützt vorkommt. Die Deutung der Entblößungsträume kann deshalb verschieden sein:
Die einen fühlen sich nackt und möchten am liebsten im Boden versinken ,
die anderen sind unsicher , fühlen sich nicht richtig angezogen; die Kleidung symbolisiert eine starke Selbstwertstörung,
wieder andere haben sich nicht recht benommen und kleiden den Traum in eine Entblößung,
die Entblößung kann ein unmoralisches Verhalten symbolisieren; der Träumer fühlt sich ertappt und bloßgestellt,
die Unordentlichkeit der Kleider kann einen unordentlichen Lebenswandel widerspiegeln,
die Entblößung kann das Unpassende ins Bewusstsein heben. Jemand fühlt sich in einer Gesellschaft fehl am Platz.
Ein Chemiker, der im Forschungslabor eines großen Werkes beschäftigt ist und von seiner Frau zur Beratung gedrängt wurde, hat folgenden Traum:
»Die Firma hat alle leitenden Mitarbeiter eingeladen. Die anwesenden Männer und Frauen sind überaus festlich gekleidet. Alle Frauen tragen lange Gewänder. Die meisten Männer haben sogar eine Fliege umgebunden. Sie stehen zusammen und unterhalten sich angeregt. Ich sehe mich an einem Fenster stehen, mache mir an einer Pfeife zu schaffen und entdecke plötzlich, dass ich nur eine Unterhose anhabe. Einige Herren schauen mich an und schütteln den Kopf. Ich hätte mich am liebsten in Luft aufgelöst.«
Wir gehen gemeinsam diesen Traum durch.
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