Die moderne Psychologie ist in hohem Maße anderen Wissenschaften verpflichtet. Ebenso wie die Physiologie dadurch revolutioniert wurde, dass man sie im Lichte physischer und chemischer Prozesse erklärte, schuldet die Psychologie der Physiologie, der Physik und sogar der Astronomie Dank. Helmholtz hat vor nahezu einem halben Jahrhundert die Geschwindigkeit der Nervenimpulse gemessen. Die peripheren Nervenzellen stellen jedoch nur einen Teil des Nervensystems dar, während das Gehirn das besondere Medium mentaler Manifestation bildet. Mit der mentalen Aktivität gehen bestimmte Prozesse im Gehirn einher. Und weil das Individuum seine Erfahrung im Zusammenhang mit bestimmten Stimuli kennt, hat man verschiedene Körperteile stimuliert, sodass die für eine Muskelreaktion erforderliche Zeit gemessen werden konnte. Eng verbunden mit diesen Untersuchungen waren Forschungen zu den Nervenfunktionen im Zusammenhang mit den Endorganen, sodass heute die Beziehungen zwischen sensorischen Funktionen und mentalen Aktionen klar verstanden werden. Jede Erfahrung basiert auf irgendeiner physischen Grundlage, und hier zeigt die Physik, dass es möglich ist, Sinnesempfindung, Emotion und Volition9 mit äußeren, den physikalischen Gesetzen unterliegenden Objekten zu verbinden. Diese physikalischen Wissenschaften haben also den Weg für die psychische Betrachtung des Geistes aus einer physiologischen Perspektive eröffnet. Psychologie beginnt mit dem Nervensystem, stellt Korrelationen zwischen Geist und Gehirn her und öffnet einen Weg, um psychologische Gesetzmäßigkeiten wahrzunehmen. Das Gehirn erfordert Differenzierung, die Nervenbahnen müssen verfolgt werden und die molekulare Aktion und Interaktion der Nervenelemente müssen eindeutig bekannt sein. Das Studium des Zentralen Nervensystems ist hier von großer Bedeutung, denn nur hier kann Psychologie ihre Vervollkommnung finden.
Platon war der Ansicht, die Gottheit habe aus dem göttlichen Wesen sublunare Geschöpfe gebildet, die wiederum den animalischen Körper geschaffen und ihm diesen göttlichen Anteil als unsterbliches Element weitergegeben hätten. In der Seele finden wir Platon zufolge den Geist als Sitz der Intelligenz sowie den animalischen und materiellen Anteil als Sitz der Leidenschaft einschließlich Mut und auch als Sitz des Triebs. Der Geist wohnt im Gehirn, die Leidenschaft im Herzen und die Triebe samt Begierden in den unteren Körperteilen. Bei Aristoteles werden die psychischen Vorgänge als Einbildungskraft, Urteil und Sinnesempfindung klassifiziert. Bei ihm sitzt der mentale Aspekt im Herzen, das Gehirn übernimmt die Aufgabe, das Herz zu kühlen. Erasistratos identifizierte als Erster das Nervensystem als klar umrissenes System, auf das er das Funktionieren mentaler Phänomene zurückführte. Er betrachtete die Luft als die Lebenskraft und verfolgte ihren Weg in die Lungen, durch das Herz und schließlich zum Gehirn, wo sie ihm zufolge zum vitalen bzw. animalischen Geist wird. Auf diese Weise wurden Geist und Körper eng verbunden, die mentalen Phänomene hingen untrennbar mit den Nervenfunktionen zusammen. Galen wiederum sagte, nachdem er entdeckt hatte, dass das Blut essenziell für das Leben ist, der animalische Geist müsse im Blut sein. Und doch betrachtete er das Gehirn als die grundlegende Nervenstruktur sowie als Sitz von Volition und Sinnesempfindung, das rein physische Körpersystem mit seinem muskulären Mechanismus hingegen als völlig abhängig vom Nervensystem. Damit ist der Wissensstand bis in neuere Zeiten markiert. Dem Engländer Willis gebührt die Ehre, vor mehr als 200 Jahren die modernen Ideen hervorgebracht zu haben. Er hielt das Gehirn für den Sitz der menschlichen Seele, für die Haupt-Antriebskraft im animalischen Mechanismus, für die Quelle aller Bewegung und allen begrifflichen Erfassens. Die Gehirnwindungen waren für ihn Zellen oder Speicher, die die Grenzen der Bewegungen des animalischen Geistes markieren. Der Kortex galt ihm als Sitz der Gedanken und als zentrales Organ10 für Bewegung und Vorstellungskraft. Newton ergänzte diese Entdeckung aus physikalischer Sicht, indem er erklärte, dass die Reize entlang der Nervenbahnen als Schwingungen verbreitet werden. Dazu kommt die Tatsache, auf die schon Willis hingewiesen hat: dass nämlich das Nervensystem die Grundlage der Reflexhandlung darstellt. Mit dieser Ergänzung der Neurologie bezüglich der Differenzierung und Lokalisierung der Funktion haben wir dank der Forschungen von Männern wie Bell oder Ferrier die Basis psychologischer Aktivität im Zusammenhang mit dem Gehirn und dem Nervensystem. So sind wir im Verlauf der Geschichte also schrittweise zu unserem gegenwärtigen Wissensstand gelangt.
Obgleich das Nervensystem Basis und Medium für mentale Vorgänge ist, dürfen wir nicht vergessen, dass im höheren Bereich der Psychophysiologie der Geist die bestimmende Kraft darstellt und dass in einem physiologisch gesunden Leben kaum etwas anderes als ein gesunder Geist den von allen so erwünschten kräftigen Körperzustand sowie Gesundheit, Lebensfreude und Glück sicherstellen kann. Die Physiologen haben ihre Forschungen im Wesentlichen auf die einzelnen Teile des Zentralen Nervensystems begrenzt, ohne zu versuchen, Modelle einer systematischen Aktivität des Gesamtsystems zu entwerfen. Das hat in der Physiologie zu der Tendenz geführt, die Bedeutung der Funktionsspezialisierung zu überschätzen. Dabei wird jedoch die Tatsache übersehen, dass es in der Aktivität des Gesamtsystems einen Zusammenhalt und eine Einigkeit gibt. Es ist wahrscheinlich, dass jeder aktive Vorgang im Nervensystem das gesamte menschliche System beeinflusst. Demnach muss es eine ständige Aktivität seitens der Nervenzellen geben, begleitet von kontinuierlichen Impulsen, die in die Zellen eindringen und sie verlassen. Dies bildet die Basis für »die Kontinuität bewusster Erfahrung«. Hinter dem Bewusstsein liegt – zumindest aus morphologischer Sicht – die anatomische Struktur des Nervensystems. Allerdings ist es bisher noch keinem gelungen, das Problem ihrer Zusammenhänge zu lösen. Der Bereich des Bewusstseins wanderte mit der Entwicklung der physiologischen Theorien allmählich nach oben, bis er – wie ein Physiologe es ausdrückte – seine letzte Zuflucht in dem nach der Lokalisierung der sensorischen und motorischen Bereiche einzig noch verbleibenden Bereich nehmen musste: im anterioren Anteil der grauen Substanz des Kortex nämlich.
Die antiken Philosophen begrenzten den Geist nicht auf das Gehirn. Mit dem Beginn der modernen Psychologie wurde das Zentrum der bewussten mentalen, emotionalen und volitionalen Phänomene mit der Medulla verbunden, in jüngerer Zeit lokalisierte man es im frontalen Bereich des Kortex, und zwar hauptsächlich deswegen, weil dies der einzige noch freie Ort im Gehirn war. Sogar dann, wenn wir alle Veränderungen, die in diesem Bereich stattfinden, verstehen könnten, würde es uns wohl nicht gelingen, die Kluft zwischen dem rein Subjektiven und dem Objektiven zu überbrücken. Noch weniger dürften wir dazu in der Lage sein, mentale Phänomene in die ihnen vorausgehenden Ursachen aufzulösen.
Die Physiologie hat sich hauptsächlich in zwei Schulen gespalten, wovon die eine die mentalen Phänomene verkörperlicht, indem sie sie ausschließlich auf physiologische und physische Ursachen zurückführt, während die andere sie idealisiert, indem sie ihnen bildhafte Namen gibt, die aber eigentlich keine Erklärung der Phänomene liefern. Durch die Kombination beider Anschauungen haben wir eine grundlegende physische und physiologische Basis für die ideale Interpretation dieser Phänomene. Sobald wir den Bereich des Transzendenten betreten und hinter all diesen physischen oder mentalen Phänomenen die Existenz einer metaphysischen Essenz voraussetzen, wird die Erklärung deutlicher, denn dann erweisen sich diese geistigen und körperlichen Phänomene schlicht als Offenbarungen jener inneren, tieferen und wahreren Existenz. Die Schwierigkeit dabei ist aber, dass ein derartiges Wesen, das die Metaphysiker als Seele identifizieren würden, in keiner Weise durch die Wissenschaft bewiesen werden kann. Im besten Fall handelt es sich einfach um eine metaphysische Konzeption.
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