Die Trennlinie in der modernen Psychologie entsteht im Zusammenhang mit der Bedeutung der mentalen Funktion – wobei eine Seite behauptet, sie sei schlicht eine Form des kosmischen Prozesses, während die andere meint, sie entspräche dem Spiel der Kräfte in der physischen Welt. Bei der Lösung dieses Problems und anderer Fragen der Psychologie hat der Physiologe ebenso viel beizutragen wie der Psychologe. Zu den herausragenden Ideen gehört das Anwenden von Messungen auf den Geist, soweit es um das Bestimmen von Zeit und Quantität geht. Dies impliziert selbstverständlich Experimente am Nervensystem und an den Veränderungen, die das Bewusstsein betreffen. Descartes unternahm schon vor Langem Experimente in Bezug auf die Emotionen, um zu beweisen, dass man sich dem Geist durch den Körper nähern kann. Doch dies erwies sich so lange als unmöglich, bis die Physiologie das Nervensystem und dessen über das Gehirn laufende Verbindungen zum Geist erschlossen hatte. Im Zuge dieses Fortschritts in der Physiologie des Nervensystems nahm die Psychologie an, dass die mentalen Phänomene stets von Nervenveränderungen begleitet sind. Die Beziehung zwischen Geist und Körper hängt von dieser Annahme ab. Die physischen und mentalen Veränderungen, die stets Hand in Hand gehen, werden mit Hilfe von Messwerten interpretiert. Man geht davon aus, dass diese zwischen Geist und Körper unzweifelhaft bestehende Verbindung einheitlich ist, womit man eine Grundlage hat, um Experimente in Bezug auf das mentale Leben durchzuführen.
Da wir diese Beziehung also festgestellt haben und von ihrer Einheitlichkeit ausgehen, können wir die Gegebenheiten des Bewusstseins analysieren, die Gegebenheiten bei neuronalen Veränderungen messen und die Modifikationen wahrnehmen, die sich in den Gegebenheiten des Bewusstseins korrelativ zu den Veränderungen in der Nervenstimulation vollziehen. Mit Hilfe des Experiments können wir den Unterschied zwischen natürlichen und willkürlichen Zuständen ebenso entdecken, wie wir herausfinden, dass die Modifikation der Nervenzellen äußerlicher Stimulation des Nervensystems oder anormalen Zuständen im Organismus zuzuschreiben ist. So stoßen wir auf jene Krankheitszustände des Nervensystems, die charakteristisch sind für bestimmte zerebrale Zustände und mentale Veränderungen, die mit organischen Veränderungen der Nervenzellen einhergehen. Und genau hier kommen mentale Krankheiten in Betracht. Das ist physiologische Psychologie und Pathologie. Die experimentelle Psychologie zeigt die Ergebnisse von Experimenten im Zusammenhang mit der Stimulation jener Organe, die das Nervensystem als das Medium mentaler Aktivität beeinflussen, [und bestimmt,] ob sie sich auf die normalen oder anormalen Zustände von Geist und Nervensystem beziehen. In diesem Semester werden wir die Psychophysiologie erörtern und im nächsten die Psychopathologie und die Psychiatrie.7
Um Psychologie zu verstehen, müssen wir tief in die Biologie graben, und um das Fachgebiet zu umfassen, müssen wir Physiologie, Neurologie, Physik und Chemie erforschen. Die Methode, die wir dabei verwenden, ist Beobachtung, unterstützt durch Experimente. Auf diese Weise hoffen wir, eine Wissenschaft zu entdecken und aufzubauen, die aus bestimmten Prinzipien besteht und bestimmte Probleme betrachtet. Sie findet ihre Grundlage oder ihr Wirkungsfeld im menschlichen Körper, insbesondere im Nervensystem. Eine Aktivität erzeugt über die Sinnesorgane einen Eindruck im Gehirn. Die Impulse werden durch den motorischen Apparat in Verbindung mit den Muskeln und Knochen ausgeführt. Die Psychologie legt zwei Axiome fest:
– Jedes mentale Phänomen beruht auf einer Aktivität des Gehirns.
– Der Geist besitzt von Natur aus keinerlei Begriff von Zahl, Qualität oder Raum.
Es ist also nicht so, dass mit der mentalen Existenz zugleich auch eine Vorstellung von diesen Phänomenen existiert. Doch markieren alle Vorstellungen, Einschätzungen und Unterscheidungen das mentale Wachstum. Das Gehirn entwickelt sich und ebenso der Geist und beide Entwicklungen sind untrennbar miteinander verbunden. Um den gegenwärtigen mentalen Status zu verstehen, müssen wir seinen Entstehungsprozess von der einfachsten Form an nachverfolgen. Wir müssen das Wachstum studieren, um an die Ordnung der mentalen Entwicklung heranzukommen, an diese Gesetze, die den mentalen Fortschritt darstellen, der sich im Einklang mit der gesamten natürlichen Evolution befindet. Vom Tier an aufwärts finden wir diese fortschreitende Entwicklung. Der Instinkt des Kükens zeigt sich am dritten Lebenstag, sodass das Küken instinktiv jedem sich bewegenden Objekt folgt und danach an seinem Führer festhält, wer oder was immer das auch sein mag, während jedes andere sich bewegende Objekt Beunruhigung hervorruft und Furcht erzeugt. Wird diese Phase instinktiver Entwicklung unterdrückt oder versäumt, kann sie sich später nie mehr entfalten. Dass es für die angemessene Entwicklung des psychischen Wesens eine Reihenfolge und einen bestimmten Zeitraum gibt, ist ein wichtiges psychisches Prinzip. Beim Menschen finden wir mehr Instinkte als bei jedem anderen Tier und sie entwickeln sich alle in richtiger Reihenfolge. Diese Instinkte und die mit ihnen verbundenen Emotionen stellen die mächtigsten Einflüsse der Natur dar.
Es gibt verschiedene Typen menschlichen Denkens und Assoziierens. Die Menschen denken und bilden auf unterschiedliche Arten mentale Erinnerungsbilder. Dabei sind die Typen individuell, die Fähigkeit aber ist allgemein. Veranschaulicht wird dies durch die Art und Weise des visuellen Beobachtens, der stimmlichen Äußerung und des inneren Sprechens. Manche Menschen visualisieren, andere drücken sich verbal aus, während wieder andere all ihren Gedanken mittels innerer Äußerungen Ausdruck verleihen. Das sind die drei Typen mentaler Verkörperung in der Geistestätigkeit. Offenbar basiert dies auf Nachahmung, die beim Menschen ebenso instinktiv ist wie bei den niederen Tieren. Um nachzuahmen, muss im Geist ein bestimmtes Konzept gebildet werden und es muss eine Antriebskraft geben, um das Konzept auszuführen. Auf diese Weise entwirft der Geist seine Pläne und mit Hilfe des Gehirns, des Nervensystems und des Körpers bringt er sie zur Ausführung.
Dieselbe Idee von der Verbindung zwischen Gehirn und Geist finden wir auch in einer anderen Richtung, nämlich im Sprechen. Im Gehirn gibt es zwei Lappen, wovon jeder die jeweils entgegengesetzte Hälfte des Körpers reguliert. Die rechte Hand wird vom linken Bereich des Gehirns gesteuert und dort finden wir nahe an dem für die Hand zuständigen Bereich das Sprechzentrum. Anthropologie und die Philologie früher Zeugen haben bewiesen, dass die Hand-Sprache bzw. die Zeichensprache vor der stimmlich geäußerten Sprache existiert hat. Bei der Hand-Sprache dient die rechte Hand als Hauptinstrument. Das stimmt mit der Feststellung überein, dass Rechtshändigkeit und Sprechen bei im Vergleich zum Menschen niedereren Lebewesen nicht vorkommen.
Dementsprechend ist die Entwicklung des tierischen Gehirns bestimmungsgemäß und die beiden Gehirnlappen weichen nicht voneinander ab. Das zeigt, dass die Sprechorgane, die überwiegende Verwendung der rechten Hand und das, wofür sie stehen (nämlich die Gehirnzentren im selben Bereich und Lappen des Gehirns), in enger Beziehung zueinander stehen. Die Frage, ob diese Beziehung natürlich ist oder erworben, also ererbt, wurde im Licht der Entwicklung von Geist und Gehirn erörtert. Dies weist zumindest darauf hin, dass es im menschlichen Gehirn eine feste und klar umrissene Grundlage für Geist und mentale Aktivität gibt und dass ein enger Zusammenhang besteht zwischen Geist und Körper, die sich beide voneinander abhängig entwickeln und sich dabei gegenseitig beeinflussen.
Genau das macht die Psychologie im medizinischen Bereich so wertvoll. In der Vergangenheit haben Physiologie und Medizin unterstellt, der Körper sei etwas ganz Anderes als der Geist. Und auch die Psychologie vertrat diese Anschauung. Moderne Psychologie und Physiologie betrachten den Menschen dagegen als Einheit von Geist und Körper. Der Körper gilt als Instrument und Medium der mentalen Offenbarung8, sodass eine der Grundbedingungen für Gesundheit in einem Geist und einem Bewusstsein besteht, die den Körperzustand bestimmen. Der Körper ist zwar eine Maschine, jedoch keine die, einmal aufgezogen, über Jahre hinweg gänzlich unter äußerem Einfluss funktionieren kann. Seine Formung und Gestaltung geschehen vielmehr von innen. Mentale Funktion ist die Basis jeder physischen Funktion. Hinter den physischen Vorgängen Verdauung, Atmung und Blutkreislauf gibt es einen mentalen Zustand, der den Körperzustand bestimmt. Es ist eine bekannte Tatsache, dass die Zivilisation Krankheit und Körperschwäche Vorschub leistet, weil mit ihr eine mentale Erregung einhergeht, die der körperlichen Gesundheit nicht förderlich ist. Sie bringt eine stärkere mentale Anstrengung und einen größeren Selbstbehauptungskampf mit sich, die dazu führen, dass die normale Entwicklung von Geist und Körper vernachlässigt wird. Daraus resultieren zahllose gestörte Zustände und Krankheiten. Wir stimmen nicht den Ruf an: Zurück zum Leben der Wilden! Doch wir sagen: Zurück zu dem Zustand, der eine niedrigere Ebene repräsentiert – nämlich: die Abwesenheit mental störender Zustände, die körperliche Wracks erzeugen, neuronale Verwirrung verstärken und Krankheit oder Tod bewirken. Indem wir das osteopathische Prinzip anerkennen, dass Medikamente unnatürlich und alle Heilmittel der Natur im menschlichen System gespeichert sind, haben wir das psychische Gesetz der Vorherrschaft des Geistes. Und will man es zum Beseitigen jener krankhaften Zustände anwenden, muss im Innern begonnen werden. Die Anpassung muss durch den Geist geschehen und der mentale Zustand muss zunächst an die Körperzustände vollkommener Gesundheit angepasst werden. Da gibt es nur ein Rezept: Pflege und ständige Aufrechterhaltung des mentalen Gleichgewichts. Wie wir wissen, beeinflussen plötzliche Emotionen den Blutkreislauf, den Herzrhythmus, die Atmung, sie zerstören die Sekretionen, beeinträchtigen die Verdauung und verursachen sogar den Tod. Werden solche Emotionen chronisch, wie ist es dann möglich, das System nutritiv vollständig zu versorgen? Die physiologische Chemie hat belegt, dass ein derartiger chronischer Zustand toxische Substanzen produziert, die jeden normalen körperlichen Prozess beeinträchtigen. Solange diese Substanzen da sind, ist Gesundheit unmöglich. Und es kann keine physische Immunität gegen Krankheit geben, weil das System für alle Arten von Keimen offen steht. Derartige vererbte oder erworbene Zustände bilden die Grundlage für jede Art von physischer und mentaler Erkrankung bzw. Schwäche. Von diesem Standpunkt aus dringt Krankheit in ein physisches und mentales Lebewesen ein, das immun sein sollte, dies aber nur sein kann, wenn es gut ausbalanciert bzw. ausgeglichen ist. Den Geist zu heilen und ihm im menschlichen System jene günstige Ausgangsposition zu verschaffen, von der aus er den Körper erhebt, statt ihn niederzudrücken, ihn kräftiger macht, statt ihn zu erschöpfen, ihn vor allen möglichen verheerenden Auswirkungen von Krankheit bewahrt, statt ihn schutzlos preiszugeben – das ist die Absicht der Psychologie, sobald sie den Bereich der Medizin betritt.
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