Im Laufe der Woche hatten Kristin und ich beschlossen, dass es an der Zeit wäre, einen ersten gemeinsamen Heimatbesuch zu machen. Ich hatte zwar häufig in den letzten zwei Wochen mit meiner Mutter gesprochen, aber immer verschiedene Gründe vorgeschoben, warum ich nicht lange mit ihr telefonieren konnte, nur damit sie nicht merkte, wie es um mein derzeit ungewohnt fragiles Seelenheil stand. In den letzten beiden Telefonaten, merkte ich schon deutlich, wie sie langsam skeptisch wurde und wiederholt nachfragte, ob denn bei mir wirklich alles in bester Ordnung wäre … Ich nahm mir vor, sie zumindest teilweise in mein Robertgeheimnis einzuweihen. Jedoch musste sie die turbulente Vorgeschichte bis zum vorläufigen Happy End am vergangenen Freitag nicht unbedingt wissen. Allerdings war das nun wirklich nichts, was sich telefonisch erledigen ließ. Dazu musste ich schon persönlich mit meiner Mutter sprechen. Die Heimfahrt bot sich daher mehr als an, nicht nur die liebevolle Energie meiner Familie zu tanken, sondern auch ein ausführliches Gespräch mit meiner Mutter zu führen.
Unsere Eltern, die sich seit unserer frühen Kindheit ein Doppelhaus teilten, freuten sich über unsere Ankündigung, übers Wochenende heimzukommen und so reihten sich Kristin und ich am Freitagmittag in den dichten Wochenendpendlerverkehr auf der A9 Richtung Thüringen ein. Aufgrund der vielen Baustellen entlang der Autobahn kamen wir nur schleppend voran. Aber dies war kein Problem, denn es drängte uns nichts. So zuckelten wir in Kristins zehn Jahren altem weißen Golf dahin, hörten eine Unplugged-CD von Eric Clapton, sangen manchmal laut mit und manchmal nicht, denn wir waren nur stellenweise textsicher. Wir plauderten entspannt vom Rest der Woche und meine immer aktive Kristin weihte mich in ihre Pläne ein, wen sie am Wochenende alles treffen wollte und wie sie den Freitag- und Samstagabend verbringen würde. Mein Glücksgefühl vom Montagabend war der Traurigkeit davor nicht wieder gewichen, denn ich bekam abends regelmäßig SMS von Robert, der mit der Einrichtung des Versuchsaufbaus an der Uni in Plymouth beschäftigt war. Da er im dickwandigen, altehrwürdigen Universitätsgebäude tagsüber kaum Handyempfang hatte, musste ich mich zwar täglich bis in die Abendstunden gedulden, aber so hatte ich wenigstens ein Ziel, die Tage sinnbringend zu füllen, damit sie schneller vergingen. Zweimal hatten wir auch miteinander telefoniert und uns zunächst ungezwungen über das jeweils Erlebte ausgetauscht und im Anschluss daran gemeinsam die Erinnerungen an unser erstes und einziges Wochenende zu zweit aufgefrischt. Mit ihm darüber zu reden, war fast genauso romantisch, wie die Stunden zu zweit tatsächlich gewesen waren. Versonnen lächelnd dachte ich an sein friedlich schlafendes Gesicht am Sonntagmorgen. Eine Welle der Zärtlichkeit durchlief mich, ließ mich sanft erschauern und hinterließ eine leise prickelnde Gänsehaut…
»Wie war es eigentlich im Kindergarten? Davon hast du noch gar nichts erzählt«, riss mich Kristin kurz vor dem Hermsdorfer Kreuz aus meinen Gedanken.
»Wie bitte? Der Kindergarten?«, ich musste mich erst kurz sammeln, denn Kristins Frage kam gerade ziemlich unverhofft für mich. Sie lächelte wissend und nickte mir aufmunternd zu.
»Genau. Der Kindergarten. Wie war deine Vorlesestunde?«, wiederholte sie noch einmal geduldig.
»Es hat mir richtig Spaß gemacht«, antwortete ich ihr.
»Das kann ich mir vorstellen!«, meinte Kristin.
»Ich habe den Vorschulkindern eine Geschichte vom kleinen Drachen Kokosnuss vorgelesen. Die Kleinen waren total süß und waren überhaupt nicht scheu. Sie saßen mit mir im Kreis am Boden und kamen mit jedem Wort näher herangerutscht, damit sie kein Wort verpassten oder ihnen kein Bild im Buch entging. Nach kurzer Zeit hatte ich die Kinder gewissermaßen alle auf meinem Schoß sitzen oder über meinen Rücken hängen. Sie klebten an mir wie eine Traube und wenn ich umblätterte, quasselten alle erst mal durcheinander, ehe ich weiterlesen konnte. Echt niedlich! Am Ende haben sie mir als Dankeschön ein lustiges Lied vorgesungen. Ich freue mich schon richtig auf das nächste Mal«, erzählte ich begeistert.
Kurze Zeit später bogen wir bereits in die Goethestraße in Hainstadt ein, wo das Haus unserer Eltern stand. Meine Tante Katharina, Kristins Mutter und gleichzeitig die jüngere Schwester meiner Mutter, schien den einparkenden Golf gehört zu haben und stand bereits empfangsbereit in der Haustür, als Kristin und ich aus dem Auto kletterten.
Nach einer kurzen, herzlichen Begrüßung schnappte ich meine Sachen und ging erst einmal zu meinen Eltern hinüber. Ich lief gleich ums Haus herum, denn Katharina hatte mir gesagt, dass alle im Garten wären, um diesen winterfest zu machen. Sobald meine Mutter mich sah, ließ sie sofort alles stehen und liegen und wir umarmten uns.
»Hallo Mama!«, sagte ich gerührt über den liebevollen Empfang.
»Schön, dass du da bist, mein Kind!«, erwiderte meine Mutter und hielt mich anschließend auf Armlänge von ihr entfernt und betrachtete mich aufmerksam.
»Mmmh«, sagte sie: »Du hast dich verändert! Du strahlst richtig und wirkst trotzdem traurig. Gibt es tatsächlich nichts Neues? Oder bekommt dir dein Studium so außerordentlich gut und schafft dich gleichzeitig so sehr?« Mütter merkten irgendwie doch immer gleich, wenn sich etwas verändert hatte.
»Beides«, antwortete ich leise und versprach: »Nachher!«, denn inzwischen waren auch mein Vater und mein Bruder herangekommen, um mich zu begrüßen. Beiden umarmten mich gleichzeitig wie zwei große Teddybären, und ich bekam erst einmal keine Luft mehr. Sie ließen erst lachend von mir ab, als ich zappelnd versuchte, mich zu befreien.
»Kaffee, Tee und Kuchen?«, fragte meine Mutter lachend in die Runde.
»Oh ja, das klingt gut!«, antwortete ich und schaute glücklich zurück. Meine Familie war mein bekannter Hafen. Hier war immer alles gut und ich fühlte mich einfach nur wohl.
Daniel, mein Bruder, griff nach meiner Tasche und ächzte belustigt.
»Sag mal, kleine Eli, hast du Steine eingepackt?«, fragte er neckend. Er war zwar zwei Jahre jünger als ich, überragte mich aber um eine ganze Kopflänge und wirkte, muskelbepackt und athletisch, wie er war, bestimmt viermal so breit wie ich.
»Ich habe meinen Laptop dabei. Ich hatte gehofft, du könntest mir helfen, eine Skypeadresse einzurichten«, bat ich ihn indirekt.
»Huuuh, die kleine Schwester will skypen. Wie universitär! Kosmopolitisch! Gar weltoffen!«, foppte er mich breit grinsend.
Ich zog eine Augenbraue hoch und schaute ihn tadelnd an: »Haha, wie lustig …!
Typisch für ihn, er neckte mich eigentlich immer. Daniel war eine absolute Frohnatur, machte sich nie wirklich große Gedanken über irgendetwas und vertraute komplett darauf, dass sich immer alles günstig fügen würde. Meine manchmal zurückhaltende, stille Art, meine Liebe zu Büchern und meine generelle Vorsicht gegenüber riskanten Unterfangen dienten ihm zum Anlass, mich ständig liebevoll aufzuziehen. Daniel war eigentlich das gesamte Gegenteil von mir: extrovertiert, immer happy-go-lucky und völlig unbeschwert. Aber wir liebten uns über alles und könnten uns ein Leben ohne einander nicht vorstellen. Wie er wohl reagieren würde, wenn er erfahren würde, dass er neben meinem Vater nicht mehr der einzige wichtige Mann in meinem Leben war? Das würde vermutlich schwierig werden!
»Na, mal ernsthaft. Ich glaube, wir beide müssen nachher einen kleinen Ausflug machen und erst einmal Einkaufen fahren, Schwesterherz.«, meinte er nun in Planungsstimmung.
»Aha?«, antwortete ich fragend.
»Soweit ich weiß, ist dein vorsintflutlicher Laptop noch nicht einmal mit einer Webcam ausgerüstet, habe ich Recht?«
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