Er würde in aller Stille über ihr Wohlergehen wachen und wann immer ihm etwas einfalle, das ihrem Wohl dienen könne, werde er sich sogar durch die Geringschätzung, die ihm durch Mrs. Ashleigh zuteil geworden wäre, nicht davon abhalten lassen, seine Vorschläge zu unterbreiten und dieser, wie er es auch jetzt täte, die volle Verantwortung für die Missachtung seiner Ratschläge übertragen, die, wie er ohne Eitelkeit behaupten könne, einiges Gewicht bei Personen besäßen, die zwischen wahrem Wert und prahlerischer Anmaßung wohl zu unterscheiden wüssten.
Mrs. Ashleigh gehörte zu den überaus weiblichen Naturen, die sich instinktiv auf andere stützen. Sie war schüchtern, vertrauensselig, sanft und liebenswert. Die Schilderung von Mrs. Poyntz, Mrs. Ashleigh sei „auf alltägliche Weise schwach“, wurde ihr nicht ganz gerecht, denn obwohl sie man sie schwach nennen konnte, besaß sie Herzensgüte und einen empfindsamen Charakter, die dieser herabwürdigenden Definition nicht entsprachen. Wurde ihr eine Richtschnur vorgegeben, folgte sie dieser Vorgabe ohne Abweichung. Die Pflichten einer Hausfrau erfüllte sie hervorragend. Kein Haushalt, nicht einmal der von Mrs. Poyntz, war perfekter organisiert. Das alte Abbots´ House hatte seinen düsteren, altertümlichen Charakter gegen den einer angenehmen gastlichen Stätte vertauscht. Alle Dienstboten vergötterten Mrs. Ashleigh und es machte ihnen großen Spaß, ihr dienlich zu sein. Alles lief mit der Harmonie eines Uhrwerks, und sie verbreitete Behaglichkeit wie das Sonnenlicht, das sich über einen geschützten Platz ergießt. Ihr in das liebe Gesicht zu blicken und dem einfachen Geplauder zuzuhören, das in gleichförmigem, langsamen und einlullenden Tonfall über ihre Lippen strömte, bedeutete schon eine Rast vor den „zehrenden Sorgen“ des Alltags. Sie bedeutete für das Gemüt, was die grüne Farbe für das Auge ausmacht. In allen Dingen, die sich auf den normalen Tagesablauf bezogen, erwies sie sich als äußerst verständig, und der Klügste hätte in diesem Bereich von ihr lernen können. Aber sobald irgendetwas, so unbedeutend es auch sein mochte, sie zwang, von dem ausgetretenen Pfad des Hausfrauenlebens abzuweichen, verließ sie ihre Zuversicht und sie bedurfte eines Vertrauten, eines Ratgebers, dem sie arglos und unterwürfig Folge leistete und unbedingtes Vertrauen schenkte. Aus diesem Grunde wandte sie sich, nachdem sie Mr. Vigors, dessen Führung sie sich bisher anvertraut hatte, verloren hatte, zunächst an Mrs. Poyntz und kurz darauf noch flehentlicher an mich, da eine Dame dieses Charakters, ohne den Ratschlag eines Mannes einzuholen, nie ganz zufrieden sein konnte. Zudem nimmt dort, wo einmal einem Arzt gegenüber eine über die Förmlichkeit eines normalen Krankenbesuch hinausgehende Vertrautheit hergestellt ist, das Zutrauen zu ihm rasch und bedenkenlos als natürliches Resultat der Sympathie zu, die sich auf ein Objekt der Sorge konzentriert und seinem forschenden, aber teilnahmsvollen Blick auch die verborgensten Winkel des Heims öffnet. Aus diesem Grunde hatte mir Mrs. Ashleigh auch den Brief Mr. Vigors gezeigt und – vergessend, dass ich nicht ihren liebenswürdigen Charakter besaß und der diesen mit dem Nimbus einer Würde begleitete, zu dem sie nur scheu aufblickte – mich befragt, wie sie vorgehen solle, um den Freund und Bekannten ihres verstorbenen Gatten versöhnen und beschwichtigen zu können. So erstickte ich meinen Unmut, den weniger der Ton seiner beleidigenden Anspielungen gegen mich, als die Arroganz, mit der sich dieser voreingenommene Eindringling über den Willen der Mutter hinweg zum Wächter über ein Kind erhob, das unter ihrer Obhut stand, hervorgerufen hatte. Ich entwarf eine meiner Meinung nach würdevolle und versöhnliche Antwort, in welcher ich mich aller Erörterungen enthielt und Mrs. Ashleigh mitteilen ließ, sie werde ihm jeder Zeit ihre Aufmerksamkeit schenken und jeden Rat, den ihr ein so geschätzter Freund ihres Gatten zum Wohle ihrer Tochter gütigst erteilen würde, gerne annehmen. Ungefähr einen Monat nach meiner Wiedereinsetzung in Abbots´ House war jegliche Verständigung zum Erliegen gekommen.
Eines Nachmittags aber begegnete ich unerwartet Mr. Vigors am Eingang zu der dunklen Gasse, die Richtung Abbots´ House führte. Mit dem ersten Blick in sein Gesicht – das einen noch finstereren Ausdruck zeigte als gewöhnlich - erkannte ich, dass er von dort kommen musste und das, als er meiner Gewahr wurde, sich seine Züge von Düsterheit zu einer Grimasse höhnischen Triumphs verzogen. Sofort wurde mir klar, dass ihm irgendein Schlag gegen mich geglückt sein musste und ich beschleunigte voll banger Ahnungen meinen Schritt.
Mrs. Ashleigh saß allein vor dem Haus unter einer hohen Zeder, die ein natürliches Dach in der Mitte des sonnigen Vorplatzes bildete. Als ich neben ihr Platz nahm, bemerkte ich, dass sie sich in sichtlicher Verlegenheit befand.
„Ich hoffe “ sagte ich und zwang mich zu einem Lächeln, „dass Mr. Vigors Ihnen nicht versucht hat einzureden, ich wäre für das baldige Ableben meiner Patientin verantwortlich oder sie sähe viel schlechter aus als unter der Obhut von Dr. Jones?“
„Nein,“ antwortete sie „er bemerkte freudig, dass Lilian viel gesünder wirke und dass er zu seiner großen Freude vernommen habe, sie sei auch recht heiter geworden, würde ausreiten und sogar tanzen – was ich sehr freundlich von ihm finde, denn er hat für das Tanzen nicht allzu viel übrig, schon aus Prinzip.“
„Trotzdem fühle ich, dass er irgendetwas gesagt haben muss, was Ihnen Verdruss bereitet hat, und wie ich aus seinem Gesichtsausdruck, als ich ihm in der Gasse begegnete, entnehmen darf, liegt die Vermutung nahe, dass er es irgendwie geschafft hat, das Vertrauen, welches Sie freundlicherweise in mich setzen, zu schmälern.“
„Ich versichere Ihnen, dass dem nicht so ist. Er hat Ihren Namen weder mir noch Lilian gegenüber erwähnt. Ich habe ihn selten so freundlich erlebt, fast wie in alten Zeiten. Er hat ein gutes Herz und war meinem Gatten sehr zugetan.“
„Hatte Mr. Ashleigh eine sehr hohe Meinung von Mr. Vigors ?“
„Nun, ich weiß nicht genau, da mein lieber Gilbert nie mit mir über ihn gesprochen hat. Gilbert war von Natur aus sehr schweigsam. Aber er hasste jeglichen Trubel – alle weltlichen Dinge – und Mr. Vigors verwaltete seinen Besitz, prüfte seine Bücher und vertrat ihn während eines lang andauernden Rechtsstreits, den er von seinem Vater geerbt hatte. Sein Vater brachte dieser Prozess unter die Erde und ich weiß nicht, was wir ohne Mr. Vigors getan hätten. Ich bin so froh, dass er mir vergeben hat.“
„Hm! Wo ist Miss Ashleigh? Im Haus?“
„Nein, irgendwo im Garten. Aber lieber Dr. Fenwick, Sie dürfen mich jetzt nicht verlassen. Sie sind so freundlich und es ist, als ob Sie ein alter Freund wären. Es ist etwas vorgefallen, das mich völlig außer Fassung bringt.“
Sie sagte das so kleinlaut und matt und schloss dabei ihre Augen, so dass es schien, als wäre es nicht nur um ihre Fassung, sondern um sie selbst geschehen.
„Das Gefühl der Freundschaft, das Sie eben erwähnten, beruht auf Gegenseitigkeit,“ sagte ich ernst „und wird von meiner Seite von einem Gefühl tiefster Dankbarkeit begleitet. Ich bin alleinstehend, ein einsamer Mann, habe weder Eltern noch nahe Verwandte und habe seit der Abreise von Dr. Faber in dieser Stadt niemanden, mit dem ich in näheren Kontakt treten wollte. Sie waren so freundlich, mich in Ihr Haus aufzunehmen und mir etwas zu gegeben, was mir während meines bisherigen Lebens versagt geblieben war – einen Blick auf das häusliche Glück werfen zu dürfen, jenen Zauber, jene Ruhestätte für das Auge, das Herz und den Verstand, den man nur in einem Haushalt zu spüren vermag, welcher durch die Anmut eines Frauenantlitzes erhellt wird. Daher sind meine Gefühle für Sie und die Ihren in der Tat die eines alten Freundes und bei jedem besonderen Ausdruck des Vertrauens, den Sie mir gewähren, fühle ich, als sei ich nicht mehr der einsame, und heimatlose Mensch ohne Freunde.“
Читать дальше