Wir dürfen das unwiderruflich unser Eigen nennen, was Edward Said einmal als »imaginative Geografie und Geschichte« bezeichnet hat, die
»dem Geist hilft, das Bewusstsein seiner selbst dadurch zu intensivieren, dass sie die Distanz und Differenz zwischen dem, was ihm nah, und dem, was weit von ihm entfernt ist, dramatisiert« (Said 1985, 55; eig. Übers.)
Diese Geografie und Geschichte »[besitzt] einen imaginativen oder figurativen Wert, den wir benennen und fühlen können« (ebd.). Unsere Zugehörigkeit zu ihr begründet das, was Benedict Anderson mit dem Begriff der ›imaginären Gemeinschaft‹ umschrieben hat (Anderson 1988). Zu diesem ›Afrika‹, das unausweichlich Teil der karibischen Vorstellungswelt ist, können wir im wörtlichen Sinne nicht einfach heimkehren.
Der Charakter dieser aufgeschobenen ›Heimreise‹, ihre Dauer und Komplexität sind in zahlreichen Texten anschaulich behandelt worden. Die dokumentarischen Archiv-Fotografien von Tony Sewell – Garveys Kinder: Das Erbe des Marcus Garvey 3 – erzählen die Geschichte einer ›Heimkehr‹ zu einer afrikanischen Identität, die notwendigerweise über den Umweg London-Vereinigte Staaten führte. Sie ›endet‹ nicht in Äthiopien, sondern bei Garveys Statue vor der St.-Ann-Gemeinde-Bibliothek auf Jamaika, sie ›endet‹ auch nicht mit einem traditionellen Stammeslied, sondern mit der Musik von Burning Spear und dem Redemption Song von Bob Marley. Hier finden wir unsere ›lange Reise zurück in die Heimat‹. Der couragiert geschriebene Bildkommentar von Derek Bishton, Black Heart Man – die Reise-Geschichte eines weißen Fotografen ›auf den Spuren des gelobten Landes‹ –, hat seinen Anfangspunkt in England und führt weiter über Shashemene, den Ort in Äthiopien, den viele Jamaikaner/innen auf der Suche nach dem gelobten Land durchstreifen, direkt in die Sklaverei. Die Reise endet jedoch in Pinnacle, Jamaika, wo sich die ersten Niederlassungen der Rastafarians entwickelt haben, und sie endet ›jenseits‹ davon – zwischen den Armen und Enteigneten im Kingston des zwanzigsten Jahrhunderts und in den Straßen von Handsworth, England, wo Bishtons Entdeckungsreise begonnen hatte. Diese symbolischen Reisen sind notwendig für uns alle, und sie sind notwendigerweise zirkulär. Hier finden wir das Afrika, in das wir – ›über einen Umweg‹ – zurückkehren müssen: das Afrika, das ein Teil der Neuen Welt geworden ist, das Afrika‹, das wir selbst geschaffen haben, das ›Afrika‹, wie wir es in unserer Politik, unserer Erinnerung und in unseren Wünschen und Sehnsüchten wiedererzählen.
Was hat es mit dem zweiten, beunruhigenden Term in unserer Identitäts-Gleichung, der europäischen Präsenz auf sich? Für viele von uns besteht hier das Problem nicht in einem Zuwenig, sondern in einem Zuviel. Während Afrika ein Fall des Ungesagten war, leiden wir im Falle Europas darunter, dass es ununterbrochen spricht und uns spricht. Die europäische Präsenz unterbricht die Unschuld des ganzen Diskurses über ›Differenz‹ in der Karibik, indem sie die Frage der Macht einführt. ›Europa‹ ist unwiderruflich mit dem ›Spiel‹ der Macht, mit den Linien von Gewalt und Zustimmung und mit der Rolle des Herrschenden in der karibischen Kultur verknüpft. Es ist die europäische Präsenz in Form von Kolonialismus, Unterentwicklung, Armut und Rassismus gegen Farbige, die innerhalb ihrer dominanten Repräsentationsregimes das schwarze Subjekt positioniert hat: im kolonialen Diskurs, dem der Abenteuer- und Entdeckungsliteratur, dem über die Romantik des Exotischen, im Auge des Ethnografen und Reisenden, in den Topoi des Tropischen im Tourismus, den Reiseführern und in Hollywood und in den gewalttätigen und pornografischen Sprachen des Ganja und der städtischen Gewalt.
Da es bei der Présence Européenne um Ausgrenzung, Zwang und Enteignung geht, erliegen wir oftmals der Versuchung, diese Macht als vollkommen außerhalb von uns zu sehen, als eine äußerliche Kraft, deren Einfluss wir – ähnlich wie die Schlange ihre Haut – einfach abstreifen könnten. Woran uns Frantz Fanon in seinem Buch Schwarze Haut, weiße Masken erinnert, ist die Tatsache, dass und wie diese Macht zu einem konstitutiven Element unserer eigenen Identitäten geworden ist.
»… und der Andere fixiert mich durch Gesten, Verhaltensweisen, Blicke, so wie man ein Präparat mit Farbstoff fixiert. Ich wurde zornig, verlangte eine Erklärung. Nichts half. Ich explodierte. Hier die Bruchstücke, die von einem anderen Ich wieder zusammengesetzt wurden.« (Fanon 1952, 113; dt. 1980, 71, eig. Übers.) 4
Dieser ›Blick‹ von dem Ort des Anderen aus fixiert uns nicht nur durch seine Gewalt, Feindseligkeit und Aggressivität, sondern auch durch die Ambivalenz seines Begehrens. Dies konfrontiert uns nicht einfach direkt mit der herrschenden europäischen Gegenwart als einem Ort oder ›Schauplatz‹ der Integration, an dem all diejenigen Gegenwarten, die sie aktiv zerstört hatte, neu zusammengefügt und in einem Rahmen gefasst werden. Als Schauplatz einer tiefgreifenden Spaltung und Verdopplung, die Homi Bhabha »die ambivalenten Identifikationen der rassistischen Welt« genannt hat, »das ›Anderssein‹ des Selbst, ist sie in das perverse Palimpsest der kolonialen Identität eingeschrieben« (Bhabha 1986).
Der Dialog von Macht und Widerstand, von Verweigerung und Anerkennung mit und gegen die Présence Européenne ist fast ähnlich komplex wie der ›Dialog‹ mit Afrika. Im alltäglichen kulturellen Leben lässt er sich in seiner reinen und unberührten Form nirgendwo wiederfinden. Er ist zu jeder Zeit und immer schon mit anderen kulturellen Elementen synkretistisch verschmolzen, kreolisiert – nicht verloren jenseits der Mittleren Passage, sondern immer schon präsent: von den Harmonien unserer Musik bis zum basso continuo Afrikas durchquert und durchkreuzt er unser Leben an jedem Punkt. Wie können wir diesen Dialog so inszenieren, dass wir endlich diejenigen sind, die ihm, ohne Terror und Gewalt, seinen Platz zuweisen, anstatt für immer und ewig durch ihn unseren Platz zugewiesen zu bekommen? Werden wir jemals in der Lage sein, seinen unumkehrbaren Einfluss anzuerkennen und gleichzeitig seinem imperialisierenden Blick zu widerstehen? Bisher konnte dieses Rätsel noch nicht gelöst werden, höchst komplexe kulturelle Strategien sind dafür erforderlich. Denken wir zum Beispiel nur an den Dialog eines jeden karibischen Filmemachers und Autors, den er auf die eine oder andere Weise mit dem dominanten Film und der dominanten Literatur des Westens führen muss. Denken wir an das komplexe Verhältnis junger schwarzer britischer Filmemacher/innen zur ›Avantgarde‹ des europäischen und amerikanischen Kinos. Wer würde diesen angespannten und qualvollen Dialog als ›eindimensional‹ beschreiben?
In der Gegenwart der dritten Präsenz, der ›Neuen Welt‹, geht es weniger um Macht als um den Boden, den Ort und das Territorium. Die ›Neue Welt‹ ist der Treffpunkt, an dem die vielfältigen kulturellen Nebenflüsse zusammenlaufen, sie ist das ›leere‹ Land (das die europäischen Kolonisatoren entleert haben), in welchem Fremde aus allen Teilen der Welt zusammenstießen. Niemand von den heutigen Bewohner/innen der Inseln – den schwarzen, braunen, weißen, afrikanischen, europäischen, amerikanischen, spanischen, französischen, ostindischen, chinesischen, portugiesischen, jüdischen und niederländischen – ›gehörte‹ ursprünglich dorthin. Die Neue Welt ist der Ort, an dem die Kreolisierungen, Assimilationen und Synkretismen ausgehandelt wurden. Die Neue Welt ist der dritte Term, die erste Szene, auf der die verhängnisvolle und tödliche Begegnung zwischen Afrika und dem Westen inszeniert wurde. Sie muss auch als Ort vielfältiger und kontinuierlicher Vertreibungen verstanden werden: die der prä-kolumbianischen Ureinwohner/innen, der Arawaks, der Kariben und Indianer – die ständig aus ihrer Heimat vertrieben und dezimiert wurden –, die zahlreicher Völker aus Afrika, Asien und Europa; die ständigen Vertreibungen durch Sklaverei, Kolonisation und Eroberung. Die Neue Welt steht für die endlosen Wege, auf denen die karibischen Völker zur Migration bestimmt wurden. Sie ist zum Signifikanten für die Migration selbst geworden, für das Reisen, Unterwegssein und für die Rückkehr als gemeinsame Erfahrung und Bestimmung, für den Antillaner als den Prototypen des Nomadentums der modernen oder postmodernen Neuen Welt, der sich ständig zwischen dem Zentrum und der Peripherie hin- und herbewegt. Die Beschäftigung mit Bewegung und Migration ist dem karibischen Film und anderen ›Dritte-Welt-Filmen‹ gemeinsam. Aber es ist für uns eines der bestimmenden Themen, das sich in allen – den Drehbüchern und filmischen Bildern zugrunde liegenden – Erzählungen wiederfinden lässt.
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