Heute, nach der Schule – sie hatten beide gerade mit der Oberschule begonnen, denn Gadi war vierzehn und Shira sieben Monate und zwei Tage jünger – erzählten sie ihre jeweiligen Ausreden. Shira sagte dem Haus, dass sie für eine Klassenarbeit in Geschichte mit Zee lernte. Bestimmt kam sie vor Malkah heim; falls jedoch nicht: Malkah, die Zees Familie nicht ausstehen konnte, würde niemals dort anrufen. Malkah arbeitete manchmal zu Hause und manchmal im Basisbüro. Die Computerbasen waren die Goldminen der Stadt, dort wurden die Systeme erschaffen, die der wichtigste Exportartikel waren. Malkah und Avram waren beide Basisaufseher, gehörten zu den geachtetsten Forschern (oder, wie Malkah lieber genannt wurde, Designern) auf ihrem Gebiet. Die Produkte und Systeme, die sie für verschiedene Multis entwickelten, waren das Fundament für die Unabhängigkeit der Stadt.
Manchmal, wenn Shira das Haus anlog, hatte sie das Gefühl, der Computer merke es. Wie die meisten Häuser hatte es eine weibliche Stimme und strahlte Wärme aus. In Shiras Vorstellung war es immer etwa zehn Jahre jünger als Malkah. Als sie klein war, noch sehr klein, hatte sie es für lebendig gehalten, und manchmal fiel es ihr immer noch schwer, das nicht zu tun, denn es wusste so viel von ihr und es äußerte unverblümt Meinungen und Urteile. Malkah hatte es über die Fähigkeiten der Hauscomputer all ihrer Bekannten hinaus erweitert. Shira wusste nicht, was Gadi seiner Mutter erzählte. Sara war bettlägerig, sie war an einem neu mutierten Virus erkrankt, der nicht behandelt werden konnte. Ihre Knochen lösten sich langsam auf. Sie lebte unter einem Medikamentenschleier, und Gadi kam bei ihr mit jeder lahmen Ausrede durch.
Avram, Gadis Vater, arbeitete im Labor und legte wie gewöhnlich einen Zwölf-Stunden-Tag ein. Weder Shira noch Gadi konnten sich erinnern, ob Avram schon so lange gearbeitet hatte, bevor seine Frau zu sterben begann, aber beides, Avrams lange Arbeitstage und Saras Krankheit, ging nun schon fünf Jahre.
Heute herrschte draußen außerhalb der Schutzhülle Sturm, die flachen Wogen der Bucht waren zu schlammigem Schaum aufgepeitscht und klatschten an den Strand. So gingen sie stattdessen an ihren Geheimplatz. Avrams Labor nahm das erste Stockwerk des Hauses ein, in dem Gadi wohnte – zusammen mit sechs anderen Familien im Erdgeschoss. Gadi sagte, das Haus sei ein Hotel gewesen, als die Stadt ein Badeort war. Es war breit, vierschrötig, aus gelben Ziegelsteinen unter einem roten Ziegeldach, das noch aus den Zeiten übrig war, als Wetter darauf herniederging. Quer über die ganze Vorderseite hatte einst eine Veranda zum Sitzen eingeladen, aber alles Holz war längst den Lumpensammlern zum Opfer gefallen, und jetzt hatte jede der zahlreichen Türen eine eigene, zusammengeschusterte Treppe zur Erde.
Sie schlichen die alte Feuertreppe hoch zum Obergeschoss mit den vielen kleinen, unbenutzten Räumen. »Stell dir die Dienstmädchen vor«, sagte Gadi. »Wie Sklaven.«
»Sie waren keine Sklaven.« Shira schaute ihn stirnrunzelnd an. Er mochte es schon immer, alles zu dramatisieren. »Sie wurden bezahlt.«
»Mit Papiergeld«, sagte Gadi streng. Er schob das Fenster hoch. Sie hatten es mit Seife eingerieben, damit es leichter aufging. Er kletterte leichtfüßig, gewandt hinein und hielt ihr die Hand hin. Gadi war in den letzten anderthalb Jahren rasch gewachsen; jetzt war er acht Zentimeter größer als Shira. Sie gab die Hoffnung auf, noch weiterzuwachsen. Sie fand sich damit ab, so klein zu bleiben wie Malkah. Malkah erzählte ihr, dass über Generationen alle größer wurden als ihre Eltern, aber jetzt nicht mehr. In Tikva aß man richtige Nahrungsmittel, aber die meisten Menschen aßen Bottichnahrung aus Algen und Hefen. Sie hatte das Zeug auf einer Schulfahrt probiert; es war abscheulich. Als sie daran würgten, hielt ihnen ihr Lehrer einen Vortrag über die zwei Milliarden Menschen, die in der Hungersnot umgekommen waren, als die Meere über die Reisfelder und Brotkörbe der Deltaländer wie Bangladesch und Ägypten stiegen, als die Großen Prärien verdorrten und in Staubstürmen davonflogen, die den Himmel verdunkelten und frühen Winter brachten, als die Wüsten Afrikas und die neue Wüste am Amazonas sich Monat um Monat ausbreiteten. Ohne Bottichnahrung war der größte Teil der Welt zum Hungertod verurteilt, wie die Zahllosen in den zwanziger und dreißiger Jahren.
Sie kletterten ins Treppenhaus und zogen die Schuhe aus, bevor sie den staubigen Flur entlangschlichen. »Wo gehen wir hin?«
»Ins blaue Zimmer.«
Es war das freundlichste der Zimmer und hatte immer noch Möbel. Die Wände zeigten das gleiche ausgeblichene Graubraun wie die anderen Zimmer, aber auf dem Fußboden lag ein blassblauer Teppich; auf dem Metallbett bot eine zerlumpte baumwollene Tagesdecke bescheidene Gemütlichkeit. Die Räume hier oben waren kaum groß genug für ein Einzel- oder Doppelbett, einen Schrank, einen Stuhl. Zu Hause konnte sie Gadi nie mit in ihr Zimmer hinaufnehmen, ebenso wenig, wie er sie in seins mitnehmen konnte. Als sie kleiner waren, hatten sie in ihren Zimmern zusammen gespielt, aber wenn sie jetzt die Tür zumachten, fragten ihre Familien nach dem Grund. Wie jedes andere Mädchen in Tikva hatte sie in der Pubertät ein Implantat bekommen zur Verhütung von Schwangerschaften, aber Jugendliche in ihrem Alter hatten sich einfach nicht für Sex zu interessieren. Natürlich taten sie es alle, auf ängstliche, alberne Art.
Gadi setzte sich im Lotussitz auf das Bett und sie setzte sich genauso ihm gegenüber. Das Licht vom Fenster verwandelte sein feines, lockiges Haar in einen Heiligenschein aus Flaum. »Was haben wir zu essen?«
Sie zog ein halbes Roggenbrot aus ihrer Tasche. »Graubrot aus der Bäckerei und das Übliche.« Telapia war eine der Lebensgrundlagen der Stadt und Teil von ihrem Makro – Fischzucht, Anbau von Gurken, Tomaten, Paprika, das geschlossene Selbstversorgungssystem unter der Hülle. Sie waren damit aufgewachsen, mindestens fünfmal in der Woche Fisch zu essen: immer den gleichen.
Gadi stöhnte, aber er griff zu. Er hatte ständig Hunger. Mahlzeiten in seinem Hause waren dem Zufall überlassen. Er aß ein paarmal in der Woche bei Malkah – irgendwie war seine Anwesenheit am Mittagstisch selbstverständlich, nichts Außergewöhnliches. Shira knabberte ein wenig, um ihm Gesellschaft zu leisten. Von unten kam das Vibrieren von Maschinen, ein hoher Summton, laute Stimmen, die dann leiser wurden. Das Haus war solide gebaut und gab ihnen genügend Ungestörtheit, wenn sie sich in Acht nahmen. Avram war in seinem Labor. Sie konnte sich vage daran erinnern, wie Sara im Labor mit ihm gearbeitet hatte. Jetzt hatte er einen jungen Assistenten, David.
Sie kuschelten sich aneinander, Gadi legte seinen langen Arm um sie, ihre Beine verknoteten sich unter der Steppdecke. »Rabbi Berger hatte keinen Grund, so mit dir zu reden«, sagte Gadi. »Du hattest recht, ihm gefiel nur nicht, wie du es gesagt hast.«
Sie zuckte die Achseln, drückte sich näher an ihn. »Er sagt, ich habe eine schlechte Einstellung.«
»Gut. Bleib dabei.«
»Er ist so knochig. Meinst du, er klappert, wenn er die Treppen runterrennt?«
»Bin ich zu mager?«
»Du bist überhaupt nicht zu irgendwas, Gadi.«
»Das sagst du jetzt. Glaubst du, wir werden mal wie andere Ehepaare? Ständig Krach und Sticheleien. Meine Eltern waren nicht so, soweit ich mich überhaupt erinnern kann, wie es war. Sie sprachen immer ihre eigene Sprache, in Höchstgeschwindigkeit. Sie arbeiteten den ganzen Tag zusammen, und abends redeten sie dann ohne Punkt und Komma, als hätten sie sich wochenlang nicht gesehen.«
Gadis Zuhause roch wie ein Krankenhaus. Es war unnatürlich still. Shira war eine fröhlichere und geschäftigere Atmosphäre gewohnt. Malkah glaubte an die leiblichen Genüsse: gutes Essen, hübsches Geschirr, Vorhänge an den Fenstern, bequeme, gesunde Sitzhaltung an den Computern, die Kontakte immer gereinigt, sterilisiert. »Wär das nicht schön, wenn wir in meinem Haus leben könnten?«
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