Ein gemietetes Schwebauto stellte keine hohen Anforderungen. Sie brauchte nichts weiter zu tun, als es um und über Hindernisse zu lenken. Es hatte die Koordinaten ihres Ziels und fuhr von allein. Am Himmel kreiste eine weite Spirale von Aasgeiern. Sie konnten inzwischen der UV-Strahlung widerstehen. Sie konnten in der Ödnis überleben, wie auch die meisten Insekten, wie auch Möwen und Ratten und Waschbären. Menschen nicht. Singvögel nicht, alle tot. So gedieh das Ungeziefer und suchte in Wellen das Land heim, fraß die Hügel zu Wüste. Erosion tat ein Übriges. Krüppelbäume wie Pechkiefer, Wildkirsche und Bäreneiche hatten Zuckerahorn und Weymouthkiefer verdrängt. Brombeersträucher und Hundsrosen wucherten in undurchdringlichem Dickicht, dem sie auswich.
Das Auto schlug automatisch den Weg nach Osten ein, zum Ozean, vermied dabei den Rand der Cybernaut-Enklave. Multis gestatteten privaten oder gemieteten Autos nicht die Durchfahrt. Sobald sie die Enklave mit ihrer grünen Parklandschaft und der funkelnden City unter dem Kuppeldom umfahren hatte, gelangte sie in das Gebiet der freien Städte entlang der Küste. Die Straße, der sie nun folgte, führte geradewegs ins Meer, denn die tief liegenden Küstenstädte waren im Großen Wirbelsturm von ’29 zerstört worden. Die Hülle von St. Marystown glitzerte unter der Bernsteinsonne. Die Wellen rochen nach Petroleum und Salz. Jetzt konnte sie die Anhöhe aus dem Wasser ragen sehen, auf der ihre Stadt, Tikva, erbaut war. Die Schutzhülle schwebte auf Stützen darüber wie eine leuchtende Wolke. Shira steuerte das Auto an Land und den Hügel hinauf nach Tikva. Sie landete vor dem Tor, das dem Meer zugewandt war, stieg aus und ließ das Auto wenden und abdrehen.
Sie stand mit ihrem Bündel vor dem Tor. Erst jetzt fiel ihr ein, den schwarzen Umhang abzulegen. Nichts blieb, als dorthin zurückzukehren, wo sie als Kind genährt worden war. Würde es ihr als Zufluchtsstätte dienen? Vielleicht war Gadi noch hier. Bei elektronischer Übertragung waren sie Freunde, aber Gadi in Fleisch und Blut war mehr, als sie sich zumuten wollte. Wahrscheinlich konnte sie sich in die Stadt stehlen wie als Jugendliche mit Gadi, doch sie hatte keinen Grund dazu. Langsam näherte sie sich dem Monitor. Würde er ihren Handabdruck noch erkennen? Er tat es. Die Männerstimme des Stadtcomputers grüßte sie mit Namen. »Shira, Malkah Shipman erwartet dich. Avram Stein erwartet dich. Willkommen.«
Sie war verlegen, weil ihr Tränen in die Augen schossen, während sie den Umhang in ihre Schultertasche stopfte. Einen Augenblick später war sie froh, dass sie nicht versucht hatte, sich hineinzustehlen, denn sie begegnete zwei jungen Leuten, die Wache hielten. Als Sicherheitskräfte waren sie mit Pfeilgewehren ausgerüstet, die lähmend wirkten. Sie hatten gehört, wie der Monitor sie begrüßte, und nickten sie vorbei. Die Lage musste angespannt sein, dass Menschen an der Umgrenzung Wache hielten. Die freien Städte waren nicht berechtigt, Laserwaffen zu kaufen, auch wenn sie es manchmal auf dem Schwarzmarkt taten. Sie verließen sich überwiegend auf Schocker und Tranquilizer oder auf Sonarwaffen.
Unter der Schutzhülle zu gehen war anders als unter einem Kuppeldom. Die Hülle war durchlässiger für Licht und Wetter, eigentlich hielt sie nur die UV-Strahlen ab. Die Temperatur drinnen war nur geringfügig höher als draußen. Die Umgrenzungen wurden durch Computer überwacht; überschritt jemand die Schranke, löste er Alarm aus. Die Tore mit Handlesern gingen in jede Hauptrichtung. Tobte ein Wirbelsturm, was inzwischen oft vorkam, konnte die Hülle zu ihrem Schutz eingerollt werden. Die freien Städte waren entlang der Küste aus dem Boden geschossen, denn solch ein Standort war verwundbar und galt als gefährdet; kein Multi mochte Überflutung riskieren. In dieser unbeanspruchten Randzone gediehen die freien Städte.
Shira schlenderte durch die Straßen. Alle Gebäude waren verschieden, obwohl keines höher als vier Stockwerke sein durfte. Manche Häuser waren aus Holz gebaut, andere aus Ziegelsteinen, andere aus den neuen Harzen, andere aus Polymeren, wieder andere aus Stein. Shira fand die Harmonien und Disharmonien reizvoll – kleine spanische Haciendas, strenge klassizistische Villen, Holzschindelhäuser mit Steildach, ein Nachbau von Fernandez’ berühmtem Tanzenden Haus auf seinem Sockel, alle drängten sich Schulter an Schulter im gleichen Block. Nach der Einförmigkeit der Y-S-Enklave versetzten die Farben, die Strukturen, die Geräusche und Gerüche sie in einen Zustand des Entzückens, und sie merkte, wie sie immer langsamer ging und den Kopf wild hin und her drehte wie eine Blöde. Warum war sie je fortgegangen?
Es war auch ein seltsamer Anblick, dass die Dinge alt waren, rissig, verwohnt, Häuser, die einen Anstrich brauchten, ein mit Brettern vernageltes Fenster, ein kaputtes Geländer. Die Menschen hier führten ihre Reparaturen selber aus, wann sie die Zeit dafür fanden. Anarchische kleine Tulpenbeete und Tomatenpflänzchen, Bohnensprossen, die sich daranmachten, ihre Stangen zu erklettern, säumten die Straßen. Um halb drei waren fast alle an der Arbeit. Ein Reinigungsroboter werkelte die Straße entlang, hob hier und da Abfälle auf und fegte wie ein wild gewordener Handfeger. Aus einem offenen Fenster drang Geigenspiel, jemand übte und wiederholte unablässig eine Passage von Wieniawski. Sie fragte sich, warum sie das befremdete, bis ihr einfiel, dass bei Y-S Fenster normalerweise nicht geöffnet wurden. Gelegentliche Passanten waren lässig gekleidet: am Hals offene Hemden, Hosen, ein weiter Rock, Shorts, denn der Tag war der Jahreszeit entsprechend mild. Sie kam sich lächerlich vor in ihrem Y-S-Standardanzug, der inzwischen dreck- und rußverschmiert war. Ein Paar ging an ihr vorbei, sie unterhielten sich laut über irgendjemandes Mutter, ihre Stimmen tönten unbefangen. Hinter einer Hecke bellte ein Hund ein Kaninchen in einem Verschlag an. In kleinen Vorgärten staksten Hühner umher und in einem stolzierten gesprenkelte Truthähne. Ari wäre ganz aus dem Häuschen beim Anblick lebender Tiere. Die Gerüche überfielen sie: Tiergerüche, Gemüsegerüche, der Duft der gelben Tulpen, der schwerere Duft der Narzissen, Kochdüfte, der scharfe Dunst eines Misthaufens, der salzige Atem der See. Alles wirkte … ungeregelt. Wie unterernährt, wie verkümmert waren ihre Sinne in all diesen Y-S-Jahren. Wie kalt und träge kam ihr diese Konzern-Shira vor, als sie nun spürte, wie sie auftaute.
Das Haus ihrer Kindheit: von der Straße her ein unerschütterliches, quadratisches Schindelhaus, zwei Stockwerke boten eine Reihe großer, unterteilter Fenster. Es hatte sein Geheimnis, nämlich dass es um einen Innenhof gebaut war wie die Synagoge, in die sie immer gegangen war, die mit Namen Wasserschul. Niemand vor dem einundzwanzigsten Jahrhundert hatte Blumen und Obstbäume, kleine Vögel und die schlichte Schönheit grüner Blätter jemals so geliebt wie die Menschen, die nach der Hungersnot lebten. Für die waren sie kostbar und selten und ständig gefährdet. Shira war nach der Hungersnot geboren, nachdem die steigenden Ozeane viele der Reis- und Brotkörbe der Welt unter sich begraben hatten, nachdem die steigenden Temperaturen die Meeres- und Luftströmungen verlagert und einstiges Ackerland in Wüste und Steppe verwandelt hatten, nachdem das Versiegen der Ölquellen der Agrarwirtschaft zu Lande ein Ende bereitet hatte; doch die Auswirkungen und Geschichten der Hungersnot hatten ihre Kindheit geprägt.
Malkah wartete im Innenhof. »Ach Shira, endlich bist du zu Hause.«
»Seit Ari geboren ist, wollte ich ihn hierherbringen, damit ihr euch kennenlernt. Jetzt bin ich hier, aber ohne meinen Sohn. Was hat das für einen Sinn?«
»Zeit für dich, nach Hause zu kommen. Aber hier ist es gefährlich. Wir stehen unter Belagerung. Wir reden später darüber. Jetzt komm und lass dich in die Arme nehmen.«
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