Im ersten Schritt entwickelte Google aus »dem Unterschied zwischen Werbeausstrahlung als solcher und in tatsächlicher Rezeption realisierter Werbung« ein Geschäftsmodell: »Immer und ausschließlich wenn die kleinen Textanzeigen bei Google angeklickt werden, entstehen Werbeeinnahmen. Die Kenntnisnahme quittiert den Empfang. Die Werbung ist selbst noch einmal eingepackt. Von außen verspricht sie noch nicht den Gebrauchswert, sondern ein Gebrauchswertversprechen. Google bekommt Geld, sobald sich jemand entscheidet, sich tatsächlich etwas versprechen zu lassen.« (KdWÄ, 266) Der zweite, für den Werbemarkt nicht weniger revolutionierende Schritt gründet auf der Auswertung des in den Supercomputern des Konzerns fixierten Internetverhaltens der einzelnen Nutzer. »Die Wahrscheinlichkeit, dass die Werbung vom Adressaten angeklickt wird und der Adressat sich für die Werbung öffnet, steigt sprunghaft, wenn es gelingt, Werbung auf die individuellen Käuferprofile hin zu flexibilisieren und schließlich sogar zu individualisieren.« (Ebd.)
Der dritte Schritt bringt die gleiche Hochfrequenztechnik zum Einsatz, die in der Spekulation eingesetzt wird. Für die Internet-Plattformen erschließt sich damit noch einmal ein neuartiger Werbemarkt. Was hier verkauft werden kann, ist die Chance, noch innerhalb der Sekunde zwischen dem Eintippen einer Internetadresse und dem Erscheinen der Seite auf dem Bildschirm »dem Nutzer die passende Werbung einblenden zu dürfen«; Echtzeit-Bieten (Realtime-Bidding) heißt dieses Verfahren, das »die Online-Werbung in den kommenden Jahren revolutionieren könnte« (Schmidt 2010a). Hochleistungscomputer in Verbindung mit schnellen Internetleitungen analysieren, ›entscheiden‹ und bewirken in Millisekunden, welcher Internet-Nutzer welche Werbung eingeblendet bekommt. Schmidt hebt in einer Begleitglosse zu seinem Bericht hervor, dass die »Märkte […] gar nichts davon ahnen, was und wie ihnen dabei geschieht«: »Werbung im Internet wird künftig in dem Moment gebucht, in dem der Nutzer […] ein Interesse an einem Produkt […] gezeigt hat. Das […] mindert Streuverluste. Graphische Werbung im Internet wird künftig in hohem Maße ein Technologieprodukt sein.« (2010b) Google ist der Vorreiter auf diesem Geschäftsfeld. Hochtechnologie wird zur Waffe, mit der Kapital anderes Kapital erschlägt: »Wer in zehn Jahren nicht abgehängt sein will, muss jetzt in Technik investieren.« (Schmidt 2010b)
Die US-Firma Appnexus ging 2010 mittels eines Rechenzentrums in Amsterdam den europäischen Markt »für die vollautomatisierte Form der Online-Werbung« an (Schmidt 2010a; hierher auch das Folgende). Erfassung der Kundengewohnheiten via Cookies ist die Voraussetzung. Mit einem Verfahren, das »Retargeting« (Wieder-zum-Ziel-Machen) heißt, »wird der Nutzer beim späteren Besuch einer anderen Internetseite wiedererkannt«. Soweit die Identifizierung und die Verknüpfung mit dem permanent aktualisierten individuellen Profil, einer Art digitaler Personalakte. Es folgt die mannlose Interaktion zwischen den Metamaschinen im Computerinnern der einschlägigen Marktinteressenten: »In rund 10 bis 20 Millisekunden findet dann eine Auktion zwischen mehreren Werbetreibenden um diesen Werbeplatz und diesen Nutzer statt.« Es geht nicht nur um den Zuschlag der Werbechance. Sondern die Ware eines Anbieters kann auch durch die entsprechende Ware eines konkurrierenden Anbieters unterboten werden. Ein weiterer Nebenmarkt erschließt sich: Datenhandel wird für Internet-Anbieter der betreffenden Produkte zu einem Nebenerwerb. – Als einer der Effekte dieser technologischen Innovation und der von ihr getragenen Geschäftsmodelle zeichnet sich der Transfer von Werbeetats aus dem Fernsehen ins Internet ab, wie zuvor aus den Druckmedien ins Fernsehen.
6. Die Spekulation verschlingt ihre Zeit
Die Zeit der Spekulation ist immer durch sie selbst begrenzt. Es ist vorübergehende Unterschiedszeit. Die Spekulation zehrt von ihr und zehrt sie auf. Sie sägt, kann man sagen, unaufhörlich den Ast ab, auf dem sie gerade sitzt, und sucht immer schon den nächsten. Als solche ist Spekulation im Kapitalismus allüberall am Werk. Es gibt keine spekulationsfreie Zone. Wenn der australische Ökonom Dick Bryan und seine beiden Koautoren Randy Martin und Mike Rafferty (2009, 467 u.ö.) weg möchten von der Fokussierung auf Spekulation, so beruht die konkurrenzgetriebene Kapital-Mobilisierung 58auf nichts anderem als dem Differenzgeschäft, das die Spekulation ausmacht. Wo immer ein Energiestau im System ist, nützt sie das Energiegefälle, und wo ein Stillstand ist, hat sie die Differenz zur Bewegung im Auge. Die Spekulation wirkt als kapitalistische Rationalisierungsmacht, wobei freilich bei jedem Spekulationsgewinn »jemand anderes Verluste machen [muss], denn Spekulationen dieser Art sind Nullsummenspiele, was der eine gewinnt, verliert der andere« (Flassbeck 2007). Wenn Spekulation irrational wirkt, so deshalb, weil die kapitalistische Rationalität dem »methodischen Individualismus« huldigt und gesamtwirtschaftlich, zumal auf die »Ökonomie des ganzen Hauses« (Negt 2001, 408; vgl. HTK I, 124) bezogen, selbst ›irrational‹ ist. Irrational ist der aller Kapitalverwertung eingeborene Selbstzweckcharakter, der die menschliche Selbstzweckhaftigkeit pervertiert und Produktivität und Selbstzerstörung zu den beiden Gesichtern ein und derselben Medaille macht. Die Spekulation spürt verborgene Reserven auf, macht totes Kapitalvermögen zu Geld, erzwingt die Realisierung von Profitsteigerungsmöglichkeiten. Sie drängt auf die Verkürzung der Zwischenzeiten, in denen Kapital sich nicht verwertet, sprich: keine zusätzliche Mehrarbeit einsaugt. Vom Standpunkt des Kapitals ist die den Zusammenhang in seiner Gesellschaftlichkeit und zeitlichen Nachhaltigkeit denkende Vernunft ›irrational‹. Die Hochtechnologie tut nichts anderes, als der Spekulation die Räume der großen Zahl und der kleinen Differenzen zu öffnen und die Zeit – in lebensweltlichen Begriffen gesprochen – aus ihr zu tilgen. Dank dem Geräteensemble, mit dem die Hochtechnologie sie ausstattet, und den Netzwerken, welche die in den Geräten wirkenden digitalen Metamaschinen zu nutzen erlauben, identifiziert die Spekulation in ›gar keiner Zeit‹ ihre gewinnträchtigen Objekte und setzt ihre Operationen in Gang. Sie grast im Nu das System nach Profitpotenzialen ab, und ihre Operationen, mit denen sie die entdeckten Möglichkeiten verwirklicht, verdichten und beschleunigen das System. Ihre hochtechnologische Ausrüstung radikalisiert und totalisiert die Konkurrenz. Jetzt zwingt die Spekulation jedes konkret-einzelne Kapital dazu, nicht mehr nur en bloc mit fremdem Kapital zu konkurrieren, sondern es geht um vergleichende »Kapitalbewertung während des gesamten Kreislaufs« (Bryan u.a. 2009, 467). Nicht das Unternehmen als ganzes, sondern jedes Partikel des Unternehmens wird vergleichend bewertet. Ist es auf der Höhe der Durchschnittsprofitrate? Mit der Kritik an einem »Rentierkapitalismus, bei dem es im Kern darum geht, im Interesse des Geldkapitals kurzfristige Gewinne aus dem industriellen Sektor abzuschöpfen« (Gowan 2007, 158f), ist es daher nicht getan. Was als Finanzgetriebenheit der Unternehmen ins Bewusstsein tritt, ist eine der Formen, in denen »die freie Konkurrenz […] die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion dem einzelnen Kapitalisten gegenüber als äußerliches Zwangsgesetz geltend [macht]« (23/286). Eine Reihe von Umständen wirkte darin zusammen, gerade diese zur epochal hervortretenden zu machen. Sie sind zusammengefasst im Begriff des transnationalen Hightech-Kapitalismus und bilden die einzelnen Gegenstände unserer Untersuchung.
58Für Bryan u.a. bildet die konkurrenzgetriebene Kapitalmobilisierung den Kern der sog. »financialisation«. Wir setzen uns mit diesem mehr verschleiernden als erklärenden Modewort im folgenden Abschnitt auseinander.
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