„Halt! wo will der mit dem Bündel hin?“ schrie ein langer Stralsunder. „Ruhe!“ rief mein Alter. „Was, der denkt wohl, hier gibt’s Spitzbuben“, grölte der Lange. „Ruhe, sag ich Euch; er hat mir um Erlobnis gebeten; er will morgen frische Kleeder anziehn.“ – „Aha! Das ist so en Krautjunge von der Henne“, hörte ich noch den Stralsunder sagen, der nicht viel jünger war als mein Alter, aber nicht dessen gutmütigen Charakter hatte.
Den frisch gekauften Wachsstock brannte ich unten in der Gaststube an. „Das ist der Bursche“, sagte die Frau Mutter zu einem Manne, den ich sogleich für den ihrigen hielt. „Sind Sie der Herr Vater?“ fragte ich. „Jawohl, mein Sohn, du bist wohl noch nicht lange in der Fremde, he? Wo bist denn her?“ – „Aus Langensalza.“ – „Aha, ein Thüringer! Na, was du essen und trinken willst, kannst du alles bei mir haben, gute Nacht.“
Zuerst dachte ich an Lenchen im Bette; aber allmählich mischte sich das Bild der schönen Frau Amtmännin Bär dazwischen. Übermorgen wirst du dort sein, dachte ich. Ihre freundlichen Worte damals, ihre Umarmung und der Kuß hatten mir ein Vierteljahr lang in den Gliedern gelegen.
Es war ein schöner Tag, der erste Pfingstfeiertag 1805. Um sieben Uhr früh ging ich schon mit meinem Alten nach der Zitadelle, dort arbeiteten in der Kommißbäckerei viele Bäckergesellen, die er kannte. Zum ersten Mal sah ich die breite Elbe und die vielen Schiffe drauf und konnte mich nicht satt gucken. Nun mußte ich mit dem Alten Schnaps trinken und ein Würstchen essen, was ich freilich bezahlte. Auf der Zitadelle, in dem Gebäude, wo die Backöfen standen, schufteten die Gesellen noch bis zehn Uhr, wie sie sagten. Einige kamen auf meinen Alten zu, der sich heute ein wenig angeputzt hatte. „Na, alter Schweriner, was bringst du uns? Kommt Ihr von der Herberge, ist der da auch Bäckergeselle?“
„Det versteht sich, Bruder“, sagte der Schweriner. „Det is och en Löwenschütz [Ist eine über ganz Deutschland verbreitete Bäckervereinigung, die eine Brezel, von zwei Löwen gehalten, als Wappen führte.] aus Langensalza in Thüringen.“ Nicht lange darauf kam einer auf mich zu, der mir bekannt vorkam.
„He, Christel Bechstedt, bist du davongelopen? Hast der mit dem Minor überworfen, was? Ja, mit dem konnt ich mer och nich verknusen. – Donnerwetter, bist du en Schlaps geworden! Na, kennst mer noch?“
„Ja“, sagte ich, „du heißt Bernhard Dienemann.“
„Alle Hagel, der Junge kennt mer noch!“ Jetzt sperrte er die Arme aus und wollte über mich her, aber der Alte fuhr dazwischen. „Biste närrisch, Strelitzer, du siehst doch, daß sich der geputzt hat, du alter Mehlsack.“ – „Hast recht, alter Schweriner!“ – Ich mußte Dienemann nun erzählen, wie alles bei uns stände. Er war 16 – 18 Wochen bei uns gewesen und war ein ehrlicher Kerl und tüchtiger Arbeiter; aber er wollte mehr Freistunden haben. Wenn er am Sonntag nachts um zwei oder drei vom Tanzboden kam, wollte er montags nicht viel arbeiten, da schickte ihn Minor fort. Am angelegentlichsten erkundigte er sich nach Buschmanns Magd und malte sie seinem Kameraden als ein Prachtmädel ab. „Der habe ich versprochen, sie zu heiraten, denn sonst wollte sie mir nicht lieben, verstehste – aber das kennst du noch nicht, Bruder Christel.“
Ich holte tief Atem und dachte an Lenchen. –
Um zehn Uhr zog sich Dienemann recht fein an und ging mit fort; zu Mittag aßen wir auf der Herberge und ich hatte viel Mühe, daß er nicht selbst bezahlte. Dann sahen wir uns den Dom und noch ein paar Kirchen und die Festungswerke an; abends saßen wir wieder in der Kneipe. Beim Nachhausegehn zeigte er mir verschiedene Gassen und warnte mich: „Höre, Bruder Christel, laß dir nicht von die jungen Kerls verführen und gehe nicht mit dahin, wo ein Mensch sich sein Unglück holen kann. Hier gibt es Schandnickel – “
„Trag du keine Sorge, Bruder Bernhard, ich gehe morgen früh schon wieder fort.“ – „Eh, wo willst denn hin?“
„Zu Verwandten nach Neuhaldensleben.“ – „Ja so! ob de Vetterstrate [Vetternstraße] ! Na, da haste och recht; wenn du enmal zweiunddreißig bist, wie ich, da gehste nicht mehr in der Fremde rum, was?“ Er nahm nun gute Nacht und empfahl sich.
Mein alter Schweriner ging nach der Feierstube, sagte aber erst: „Brüderchen, sis en Wort! Morgen bring ich dir auf den Weg nach Neuhaldensleben, gute Nacht!“
Den andern Morgen suchte ich gleich die Feierstube auf, bot jedem die Hand. „Guten Morgen, Brüder! will einer mit abwandern? In einer Stunde gehe ich fort.“ – „Nein, Brüderchen“, sagte ein kleiner dicker Spandauer, „heute jeht doch noch keener.“ Alle waren artig; ich fragte nach dem Schweriner.
„Das alte Pferd liegt noch hinterm Ofen auf seinem Grundstück“, sagte der Stralsunder, ging hin und stieß ihn mit dem Fuße an. „He, Bruder Schweriner, steh auf! Dein Urenkel ist da, du sollst ihn zur Frau Muhme führen.“ Ich tat, als hörte ich es nicht. „Adieu, Kameraden, lebt wohl, auf Wiedersehen!“ – Damit machte ich, daß ich hinunter in die Gaststube kam, wo ich bei der Frau Mutter zwei Portionen Kaffee bestellte.
Nachdem ich eine halbe Stunde zum Fenster hinausgesehn hatte, kam auch mein Alter mit Rock und Stock, Hut und gewichsten Stiefeln an, trank mit Kaffee und eine Stunde darauf standen wir auf dem Neuhaldenslebener Wege, umarmten uns und nahmen zärtlichen Abschied voneinander.
Nun war ich wieder allein mit meinen Gedanken. Der nächste schweifte zurück zu den Pappelbäumen bei Quedlinburg. Vorgestern um diese Zeit – ach, Lenchen klopfte derb an mein Herz! Aber Luise Bechstedt, die schöne Frau Muhme, zog auch, jedoch auf eine andere Art, die ich mir damals noch nicht erklären konnte. Nachmittags um vier Uhr stand ich im Neuhaldenslebener Gasthof vor dem Spiegel; der Hausknecht hockte mein Bündel auf und schlug den Weg nach dem Schulenburgischen Gute, dem „Dözel“, ein – ich hinterher.
Wir kamen in einen großen Hof hinein und auf meine Frage nach dem Herrn Amtmann wies man mich zu seinem Wohnzimmer. Jetzo wurde ich den Amtmann gewahr; er kam aus einem Seitengebäude, ich ging auf ihn los, grüßte ihn und sagte: „Ich bin aus Langensalza.“ – „Alle Teufel! das ist ja Vetter Bechstedt! Na, kommen Sie nur gleich mit zu meiner Frau, die schwatzt alle Tage von ihrer Verwandtschaft!“
Er faßte mich derb bei der Hand; wir waren noch zehn Schritte vor der Tür, da ging sie auf und wer trat heraus? – Ach! ich schnappte nach Atem. „Vetterchen, Vetterchen Bechstedt!“ kam die Muhme gesprungen, mir geradezu um den Hals.
Der Amtmann ließ mich fahren und lachte, was er konnte. Sie zog mich bis in die Stube aufs Sofa und drückte und küßte mich noch ein paarmal, bis der Amtmann wieder dazu kam. Nun ging’s Erzählen los. Nachdem ich alles aus Langensalza berichtet hatte, sollte ich auch meine achttägige Fußreise beschreiben.
Armes Lenchen! von dir durfte ich nichts sagen, das tat weh; aber desto mehr dachte ich an dich, wenn ich allein war. Und doch hörte dies Nachseufzen allmählich auf; nach einem halben Jahr bedrückte es meine Seele nicht mehr, wenn ich an Lenchen dachte; es blieb mir nur eine leichte und schöne Erinnerung.
Nach einigen Tagen war ich auf dem Dözel eingerichtet, hatte eine Kammer für mich, schrieb einen langen Brief nach Hause, ging mit dem Vetter fleißig auf seine Länderei und bat ihn, mir was zu tun zu geben. Ich mußte dann mit dem Hofmaier und später auch öfter allein nach Tost und nach Liberitz gehn, zwei Vorwerken, die auch zum Gute gehörten, jedes etwa eine Stunde entfernt.
Der Amtmann war ein kluger Ökonom, ein bißchen derb, aber gutmütig; er sprach mit den Leuten stockplatt. Auch die Muhme sprach plattdeutsch mit ihren Mägden, was ich von ihrem schönen Schnabel und bei dem Nachtigallklang ihrer Stimme für mein Leben gern hörte. Der älteste, vierjährige Junge konnte nichts anderes als Plattdeutsch und der kleine von zwei Jahren machte auch schon: „Vetter Becktät.“
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