Flughafen
San Francisco 1960
Nie zuvor hatte irgendwer meine Schuhe geputzt, von Kind an besorgte ich das selbst – im Duisburger Elternhaus, im englischen Internat, im australischen Lager, in der australischen Armee und später auch sonstwo in der Welt. Ich war bekannt für gewienertes Leder, blankes Schuhwerk, und ich kam mir seltsam vor, sehr fehl am Platz, als ich an jenem Morgen, kurz nach der Landung in San Francisco, meiner ersten Berührung mit Amerika, auf hohem Stuhl sitzend, auf den Schwarzen herunterblickte, der für billiges Geld meine Stiefel bearbeitete. Es war sehr früh noch, erst sieben, und ich war wohl sein erster Kunde. Er ließ sich Zeit, und ich hatte Zeit, und während er mit Schuhcreme, Lappen und Bürsten zu Werke ging, ein wahrhafter Jongleur seines Fachs, stellte er Fragen.
»Where are you from, Sir, and where are you headed?«
Auch dieses Sir, das er untertänig wiederholte, gab mir ein ungutes Gefühl. Er war alt genug, mein Vater zu sein, ein ergrauter Mann in zerschlissener Kleidung, die ihm am Leibe schlotterte. Ich wünschte, er möge schneller zurande kommen, damit ich meiner Wege gehen konnte. Wie lange sollte ich hier noch vor aller Augen sitzen und mich von ihm bedienen lassen. Mir war bald, als säße ich am Pranger, und da meine Stiefel längst makellos glänzten, versuchte ich, ihm klarzumachen, daß es gut sei.
»Leave off, it's fine!«
Er aber werkelte weiter – helle Creme, braune Creme, heftiges Bürsten und noch heftigeres Wienern mit knallendem Lappen. Ja, er knallte die gefalteten Lappen über das Leder, und am Ende gab er noch einen Spritzer Wasser dazu. Das Morgenlicht spiegelte sich in meinen Stiefeln.
»Leave off, it's fine!«
Er betrachtete seine Leistung und gab mir Recht. Zu mir aufblickend hielt er die Hand hin und kassierte den Lohn.
»Thank your, Sir.«
Ich stieg vom Stuhl und setzte mich auf eine Bank nahbei, um die Zeit abzuwarten bis zur Weiterfahrt im Bus nach Squaw Valley. Lange saß ich dort, ein Fremder in Kalifornien, und achtete auf die Kunden des schwarzen Schuhputzers – es waren nur zwei in mehr als einer Stunde, der Verdienst eines Dollars, aber angesprochen hatte er an die fünfzig Leute.
»Shoeshine, Mr. President, Sir!«
»Shoeshine, Mr. Governor, Sir!«
»Shoeshine, Sir Bank Manager!«
Oh, er gab ihnen allen einen Titel, hob sie samt und sonders über sich, die möglichen Kunden, und nie seitdem ist mir aus dem Sinn gegangen, wie er mir seine Dienste angeboten hatte, jener alte Mann vor dem Busbahnhof dort draußen am Flugplatz von San Francisco.
»Shoeshine, Boss – just half a dollar, Sir!«
Es hatte geschneit im Januar, heftiger als in vergangenen Jahren, und dort, wo der Weg in den Wald mündete, war er verweht. Ich sank ein beim Gehen. Unter den Bäumen aber kam ich besser vorwärts und ich erreichte das Waldhäuschen vor der Zeit. Noch war es nicht vier, doch es dämmerte schon, und die Krähe, die zwischen den Bäumen davonflog, verlor sich schnell in der Dämmerung. Ich hörte Zweige unter der Schneelast brechen und auch wie der Schnee fiel – ein Flüstern im Wald. Darüber hinaus war es still, und ich lauschte in die Stille. Bald fürchtete ich, Ruth würde nicht kommen. Es stimmte mich traurig, denn wir würden uns nicht wiedersehen. Innerlich war ich schon weit fort, war auf dem Weg nach England, und in weniger als zweimal zwölf Stunden würde es so weit sein. Immer hatten wir uns im Wald getroffen, das zurückliegende Jahr hindurch bis hin zu dem Tag der Vandalen im November. Danach war sie fortgeblieben. Zum Jahreswechsel aber schrieb sie mir eine Karte mit der Ansicht von Tannen im Schnee, und wünschte mir Glück und, daß ich sie erwarten solle, heute um Vier.
Gemessen an der zunehmenden Dunkelheit ging es auf fünf zu, und immer noch fehlte sie. Ich harrte aus, doch ehe ich in der Ferne Schritte hörte, hatte ich sie schon aufgegeben. Jetzt stand sie vor mir, im dunklen, von der Mutter ausgeborgten Mantel, ihr schwarzes Haar verborgen unterm Wollschal, und ihr Gesicht war weiß wie der Schnee. An der Art wie sie mich ansah, spürte ich, daß sie schlimme Nachricht hatte.
»Danke, daß du gewartet hast.«
Ich schwieg.
»Es ging nicht anders – ich mußte zum Arzt, ganz unerwartet mußte ich wieder zum Arzt.«
Das brauchte keine Erklärung. Sie hustete heftig, krümmte sich beim Husten und wandte sich ab. Sie hielt sich das Taschentuch vor den Mund, sah hinein, und atmete schwer.
Sie entzog sich mir, als ich sie berührte, drehte den Kopf weg, als ich sie küssen wollte.
»Das sollst du nicht tun, nie mehr.«
»Ruth«, sagte ich. »Ich reise morgen ab.«
»Ich weiß. Und leb wohl – du.«
Sie sah mich an und wirkte sehr reif dabei, als hätte sie schon viel und lang gelebt und war doch erst fünfzehn, wie ich selbst. Sie lächelte, als verzeihe sie mir etwas.
»Du wirst fahren und ich bleibe hier.«
Ich begriff sie nicht. Es war doch alles längst geregelt – Amerika, die Überfahrt Ende Januar, zusammen mit ihrer Schwester.
»Naomi fährt. Ich bleibe«, sagte sie.
Sie erklärte den Grund nicht, sagte nicht, daß es an der Krankheit lag, ihr wegen der Krankheit die Einreise verweigert war, doch ich wußte Bescheid. Wieder hustete sie, wieder verfärbte sich ihr Taschentuch.
»Ich vergeß dich nicht, Ruth«, versprach ich ihr. »Du hörst von mir.«
»Ja, flüsterte sie. »Schreib mir, wie es in England ist.«
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