Mackensen also:
Ein Husarengeneral, der den „Führer“ nicht liebte. Dieser war als Gefreiter nicht fähig, einen Krieg ordentlich und siegreich zu führen. So dachte wohl der Großvater August. Und das Bild von dem Generalfeldmarschall hing im Wohnzimmer über der Anrichte.
Generalfeldmarschall Anton Ludwig Friedrich August von Mackensen
Unübersehbar! 1941 bekam Großvater August einen Schlaganfall. Er war 58 Jahre alt. Sein Revier schickte ihn zur Genesung nach Bad Gastein, danach lebte er als „Vorpensionär“ zu Hause und piekte kleine Fähnchen in die Landkarte, die er unter dem Bild seines Idols auf die Wohnzimmer-Tapetenwand genagelt hatte. Mit den Fähnchen markierte er den Vormarsch der Wehrmacht in Russland, die der Nachrichtensprecher im Radio mit markiger Stimme vermeldete. Da glänzten Großvaters Augen.
Sorge hatten er und Großmutter allerdings, dass es auch ihre Söhne Erich und August im Krieg erwischen könnte. Als dann vor Stalingrad Schluss war mit Vormarsch und Sieg und der Rückzug begann, Begradigung der Front genannt, da behaupteten nach dem Krieg viele der so genannten Volksgenossen: Das musste ja so kommen, das haben wir von Anfang an gewusst, dass der Adolf das nicht schafft!
Da fragte ich Großvater August: „Was hat denn Hitler nicht geschafft?“ Keine ausreichende Antwort. Ich nehme ihm das nicht übel, heute will keiner den Nazis zugejubelt haben, heute will keiner in der NSDAP, in der SA oder gar in der SS gewesen sein. Ich maße mir kein Urteil an, will und kann auch nicht ihre Haltung von damals mit dem Wissen von heute messen. Aber den Mut, sich zu ihrem Verhalten damals zu bekennen, sollten sie doch aufbringen. Oder?
Krieg zu Ende – „Gitler kaput!“ –, wie ein Rotarmist uns sagte, als er mit seinem Panjewägelchen und dem klapprigen Pferdchen davor in Kolonne in unser Dorf Granschütz ankam. Das war im Frühjahr 1945. Die GIs zogen ab, und die „Russen“ zogen ein in Sachsen-Anhalt. Wir, unsere Mutter, Kalle, Traudi und Ebi – die Zwillinge – und ich, wir wurden als „Flüchtlinge“ aus dem Osten von Familie Braunschweig aufgenommen. Vater Braunschweig war Betriebsmaurer in der Farbenfabrik im benachbarten Dorf Webau, und Mutter Braunschweig führte das Regime im Haus. Rief nacheinander alle Kindernamen, unsere vier und dazu ihre zwei, die noch zu Hause lebten, Ilse und Harry, bis es den richtigen traf, den sie meinte.
Das Haus war ein Genossenschaftsbau, gehörte den Braunschweigs, gebaut in mehreren Jahren. Unten war das Wohnzimmer, nach hinten schloss sich die Küche an, und danach gab es einen Hühner-Karnickel-Stall. Im oberen Stockwerk gab es noch ein Zimmer, das bewohnten wir fünf, und noch zwei kleine Kammern für Ilse und Harry. Die hintere Haustür führte zum Gemüsegarten, und dahinter erstreckte sich weites Niemandsland. Dachte ich. Es war ein wenig hügelig und von den Stellungen der Flakgeschütze durchlöchert. Die Kanonen hatten sie abgeholt, und nur da und dort fanden Kalle und ich und die anderen Jungen aus der Siedlung die Brennstäbe, mit denen die Kanoniere die Flakgeschosse abfeuerten. Wir bastelten daraus Raketen, wir klauten von Vater Braunschweig, die anderen von ihren Vätern, Karbid, der für die Stalllaternen gelagert wurde, steckten ihn in leere Bierflaschen, füllten Wasser dazu und die Brennstäbe. Das in der Flasche sich entwickelnde Gas entzündete sich, und mit einem gewaltigen Krach, der die Flaschen sprengte, schossen die Flaschen mit einem breiten Flammenschweif hinter sich in den blauen Frühlingshimmel.
Was für ein herrliches Spiel für uns, und wie gefährlich, tadelten uns die Erwachsenen. Wir spielten Krieg, der wohl immer noch so nah war.
Als die Käthe-Kollwitz-Schule noch nicht Käthe-Kollwitz-Schule hieß, sondern Blücher-Oberschule 4und eine Bildungseinrichtung nur für Jungen war, wurde ich im Frühjahr 1943 dort in die 1. Klasse aufgenommen. Um aufgenommen zu werden, musste meine Mutter mich dem Rektor vorstellen. Das war damals Schulleiter i.V. Spindler, später Oberstudienrat Spindler, mein Biolehrer, genannt Spinne oder auch Bobbi. Bobbi – so hieß der Gorilla im Berliner Naturkundemuseum. Und ich wurde nach eingehender Befragung durch den Rektor in die 1. Klasse der Blücher-Oberschule für Jungen eingeschult.
Der Krieg dauerte, und die Bomben auf Berlin fielen immer öfter. Die Berliner nannten Göring jetzt Meier, denn so wollte der heißen, sollte auch nur eine einzige Bombe über Berlin abgeworfen werden. Wir wohnten damals in der Hufelandstraße 30, im Quergebäude, unsere Anderthalb-Zimmer-Wohnung hatte ihre Fenster zum zweiten Hof hinaus, und der grenzte an ein Hinterhaus in der Allensteiner Straße. Dort im Vorderhaus wohnte ein Spielkamerad von mir. Sein Vater betrieb einen Zwischenhandel mit Zutaten für Konditoreien und Bäckereien. Mein Spielkamerad versorgte uns, seine Spielkameraden, mit Marzipanstangen. Und dieser so großzügig handelnde Mensch wurde ein Opfer der ersten Luftmine, die über Berlin abgeworfen wurde. Die traf genau das Haus in der Allensteiner Straße, das an unseren zweiten Hof angrenzte.
Die Bewohner des gebombten Hauses saßen vorschriftsmäßig im Luftschutzkeller, die Luftmine zerriss die Hauptwasserleitung, der Keller wurde überflutet, die festverriegelten metallenen Luftschutzkellertüren verkeilten sich, die Bewohner des Hauses in der Allensteiner Straße ertranken. Granatsplitter in allen Größen zu sammeln und untereinander zu tauschen, das war damals für uns Knaben „in“, würde man heute sagen, für mich war das nach dem Bombentod meines Spielkameraden „out“.
Göring hieß weiterhin Meier, und die Bomben auf Berlin wurden immer mehr und immer größer. Und so ordnete die Schulbehörde im Prenzlauer Berg an, dass unsere Schule, im Zuge der seit einem Jahr praktizierten Kinderlandverschickung, in den Warthegau, einen von Deutschland okkupierten Teil Polens, umgesiedelt werden muss. Wir Schüler selbstverständlich mit.
Meiner Mutter war´s recht. Unseren Vater hatte das Vaterland an die Ostfront geschickt, mitzuwirken am vom deutschen Vaterland begonnenen Überfall auf die Sowjetunion. Mit den Zwillingen, 1940 geboren, konnte sie bei ihrer Tante in Liegnitz im Zuge der so genannten Evakuierung unterkommen. Reisen hat für Angehörige der „Unterschichten“ schon immer seinen besonderen Preis gehabt. Das Geld für eine Fahrkarte nach Liegnitz hätte sie im Frieden niemals gehabt. Und den Bruder Kalle hatte die KLV nach Ostpreußen reisen lassen.
Wir Blücher-Schüler sollten nach Litzmannstadt, dem polnischen Lodz, evakuiert werden, doch wir landeten in Kalisch. Kalisch? Wohin hatte es uns da verschlagen? Das schlaue Lexikon gab mir später noch einmal nähere Auskunft 5:
Kalisz. Mittelpolnische Wojewodschaft. 6.512 km 2. 650.000 Einwohner. Erstreckt sich über die Niederung des Flusses Prosna in der Tiefebene von Wielkopolska.
Vorwiegend Textilindustrie. Weiterhin: Lebensmittel-, Holzindustrie, Maschinenbau, Metallverarbeitung, Musikinstrumentenherstellung. Landwirtschaft: Getreide, Kartoffeln, Zuckerrüben, Schweinemast.
Kalisz. Bezirksstadtder gleichnamigen Wojewodschaft. Älteste Stadt Polens; 87.000 Einwohner.
Textil-, Chemie-, Lebensmittelindustrie, Maschinenbau. Theater, Museum; bauhistorisch wertvolle Altstadt (vorwiegend neoklassizistisch). Franziskaner-, Bernhardinerkloster.
Wir haben damals weder das Museum noch das Theater besucht, sondern wurden auf Panjewagen von Hilfsdienstwilligen, von den Reichsdeutschen höchst verächtlich als Wasserpolacken bezeichnet, nach Kreuzweg kutschiert, einem ehemaligen polnischen Lungenheilsanatorium. Und da gefiel es uns.
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