Und dann gingen wir, meine Mutter und ich als ihr Ältester, Bruder Karl, drei Jahre jünger, durfte weiter schlafen, auf Tour, wie sie das nannte. Den schweren Zeitungspacken beförderten wir in Kalles Kinderwagen. Die Laubenpieper, so nannten die Berliner diese ihre Mitbürger, die in zumeist aus Brettern gezimmerten Lauben wohnten, waren zu dieser frühen Morgenstunde bereits zugange. Wir konnten es daran erkennen, dass nach und nach, erst da und dann dort, in den Behausungen das Licht angeknipst wurde. Für uns Zeitungsausträger hieß das, rechtzeitig die abonnierte Zeitung in den Kasten zu stecken oder wenn´s diesen nicht gab, über den Zaun zu werfen.
Kamen wir nach unserer Tour nach Hause, war mein Vater bereits mit dem Rad unterwegs zur Knochenschinderei am Moritzplatz. Ja, ich wollte trotz des Grauens vor dem frühen Aufstehen später zur Zeitung. Nicht als Zusteller oder Zeitungsausfahrer, sondern als Redakteur. Doch das ist eine andere Geschichte, die hat ebenfalls mit Großvater August zu tun.
Für meinen jüngeren Bruder Karl, sein Leben lang Kalle gerufen, und für mich war das sommerliche Leben auf unserem Familiengrundstück mit der Laube in der Wehlauer Straße immer wieder ausgefüllt mit kleinen Abenteuern. So hatte unsere Mutter eines Morgens ein Huhn eingefangen, eines aus unserer „Hühnerflottille“. Die Hühner liefen frei im Garten umher, pickten die Regenwürmer auf und anderes, was sie verdauen konnten, legten täglich Eier, wurden auch dann und wann geschlachtet, wie jetzt von unserer Mutter. Sie köpfte das Huhn, doch es glitt ihr aus der Hand und sprang im Garten umher. Ohne Kopf!
Beim Frühstück vor der Hütte im Schrebergarten in der Laubenkolonie Wehlauer Straße/Berlin-Prenzlauer Berg. Rechts der junge August: Hans August Ernst Plaumann, links sein Bruder Karl, genannt Kalle. Aufnahme: wahrscheinlich 1938.
Neben der Hütte befand sich ein großer und tiefer und geräumiger Keller, in das Erdreich von unserem Vorgänger gegraben. Wahrscheinlich diente er als Kohlenkeller. Er war überdacht und auf einer Leiter konnte man nach unten gelangen. Eines Sonntags kamen Tante Lucie, Onkel Max und Tochter Eva zu Besuch. Als sie sich abends verabschiedeten, blieb Onkel Max bei uns. Später, nach dem Krieg erzählte mir meine Mutter, Onkel Max hätte dort in dem Erdbunker ein paar Nächte geschlafen. Tagsüber war er bei Frau und Tochter im Haus des „Nussbaum“, das war ein Restaurant in Mitte, dort hatte Familie Selten eine Ein-Zimmer-Wohnung. Onkel Max war zu dieser Zeit aus dem Zuchthaus entlassen worden. Er war Jude und KPDler, die Nazis hatten ihn verhaftet und eingesperrt. Da er aber eine arische Ehefrau und eine Tochter hatte, die nach arischer Rasseneinteilung Halbjüdin war, wurde er befristet freigelassen. Mit der Auflage, sich täglich auf dem Polizeirevier zu melden. Tagsüber glaubte Max sich einigermaßen sicher, nachts aber fürchtete er sich vor „alten Kameraden“. Deshalb also sein nächtlicher Aufenthalt in unserem Schrebergartenverlies.
Großvater August – ein Tatmensch
Mein Großvater August war ein Tatmensch, abhold jeglichem Müßiggang. Tatmenschen können ihre Mitmenschen auch nerven. Meine Cousine Hannelore schrieb darüber in ihren Erinnerungen an ihre Mutter Erna Habermann, meine Tante.
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Vom 1. April 1927 bis zum 30. September 1930 absolvierte Erna eine Damenschneider-Lehre bei Damenschneidermeister Emma Beckmann. Erich hatte eine Herrenschneider-Lehre gemacht, während August zum Kürschner ausgebildet wurde. Ihr Vater hätte es gern gesehen, eine Werkstatt mit seinen Kindern zu eröffnen, bei der er der Chef wäre und seine Kinder die Arbeit zu absolvieren hätten. Dazu ist es aber nicht gekommen. Die Kinder sind ihre eigenen Wege gegangen. Bei der Geburt unserer Mutter soll sich ihr Vater alle Knöpfe seiner Uniform abgerissen haben, vor Wut darüber, dass es kein Junge war. Unser Großvater stirbt am 18. Oktober. 1965 an den Folgen eines zweiten Schlaganfalls (den ersten hatte er bereits im Alter von 58 Jahren). Er kann nicht mehr die Geburt seines ersten Urenkels Daniel erleben (Enkel des Erich Plaumann und Sohn des Hans Plaumann), der am 29. November 1965 geboren wird. Da er immer sehr viel Wert auf männliche Nachkommen legte, hätte ihm diese Geburt sehr viel Freude bereitet.
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So war er auch, der Großvater August. Als unsere Tochter Aenne geboren wurde, meinte er, wenn Änne, dann aber mit Ae, also Aenne, so wie das Aennchen von Tharau im Lied aus Ostpreußen.
Sein Versuch der „Selbstausbeutung“ scheiterte, zum Glück für seine Kinder. Er aber gab nicht auf in seinem Tatendrang. Er wollte Beamter werden, aufsteigen, mehr sein als nur Kutscher. Er wurde angenommen bei der Schutzpolizei als Anwärter. Er hatte weder ein Gymnasium noch eine Polytechnische Oberschule besucht. Er hatte kein Abitur. Er war ein Klippschüler. Er kannte nicht Lenins Forderung: Lernen, lernen und nochmals lernen! Aber er tat es und büffelte. Er übergab mir später, als ich Pennäler der Blücher-Oberschule für Jungen wurde, ein Mathebuch für den mittleren Polizeidienst.
Er forderte mich immer wieder auf:
„Lerne, lerne mein Junge, du musst studieren!“
Nachdem sein Plan mit der Schneidermanufaktur gescheitert war, wollte er einen Akademiker in seiner Familie haben, und der sollte ich sein, Arzt. „Ärzte werden immer gebraucht, ob im Kaiserreich, in der Weimarer Republik oder jetzt unter Hitler“, meinte mein Großvater. Doch Blut konnte ich nicht sehen. „Dann eben Rechtsanwalt“, meinte mein Großvater. „So lange Eigentum in welcher Form auch immer existiert und herrscht, werden die Menschen streiten, rauben, morden, falsch´ Zeugnis reden“, meinte mein Großvater.
Nur: Paragrafen pauken und schwarze Roben tragen, das war nicht mein Ding! Ich wollte Journalist werden. Und dafür war nun wieder meine Mutter verantwortlich. Siehe: oben. Studieren, wie Großvater August es forderte, das fand ich schon in Ordnung.
Großvater August war Beamter geworden, vom Streifenpolizisten hatte er es mit „Lernen, lernen und nochmals lernen!“ sogar zum Revierbeamten geschafft, der auch orthografisch firm sein musste. Und er liebte die Uniform. Ich habe später lange darüber nachgedacht, warum mein Großvater sich so gerne in Uniform abbilden ließ. Er, der Aufmüpfige gegen einen Vertreter von Macht und Militär. Gutsherren waren Teil der Macht und des Militärs nicht nur in Ostpreußen. Warum nur fühlte mein Großvater sich wohl in einer solchen Tracht der Macht?
Ich denke: Diese von Generation zu Generation immer als Knechte der Reichen und Besitzenden Gebrandmarkten fühlten sich mit der Uniform frei, glaubten sich damit den sie Beherrschenden als Uniformträger gleich. Welch ein Irrglaube! Erstens waren sie nur „Kanonenfutter“ für die Machtherren, und zweiten waren sie weiterhin nur Dienende. Uniformiert mussten sie tun, was ihnen befohlen wurde – auch sterben, geschönt als „Sterben für Kaiser oder Führer, für Volk und Vaterland!“
Die Männer vor dem jungen August
Onkel Walter Habermann, Onkel August Plaumann, Großvater August Karl Plaumann, Vater Erich Plaumann. (Von links nach rechts.) Aufnahme: wahrscheinlich 1941.
Da strahlt er, der Polizeimeister der Schutzpolizei, zum Polizeioffizier hatte er es nicht geschafft, da war die NSDAP davor, in die sollte er eintreten. Er trat nicht ein, er war Mitglied der Bekennenden Kirche, so wie sein Freund Otto Pfitzner, ein Notar. Großvater Augusts Held und „Führer“ war der Feldmarschall Mackensen 3.
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