Und er hatte auch gleich eine Halbliterflasche mitgebracht, nicht Wodka, nur Cognacverschnitt, nicht 45 Prozent, sondern nur 38. Und ich versuchte es. Und es klappte, ungefähr ½ Stunde, dann erneut ein kräftiger 38prozentiger Schluck. Und Großvater August schluckte aus Solidarität mit. Feuerwasser löst die Zunge. Das machten in ihrem Interview mit „Kongo-Müller“ meine späteren Kollegen Scheumann & Heynowski 2sich zu Nutze. Als jener, reichlich aufgefüllt mit Wermut, über seine und seiner Truppe Gräueltaten im Kongo zu plaudern begann. Unsere Unterhaltung in meiner Studierstube handelte nicht von begangenen Scheußlichkeiten. Großvater August erzählte davon, warum er aus Ostpreußen flüchten musste und nach Berlin kam. Er war damals Pferdeknecht auf einem Rittergut in Ostpreußen. Sein Vater war auch Knecht, die Mutter Magd. Die Gutsherren in Ostpreußen, oftmals adlig, langweilten sich in den langen und kältestrengen Wintermonaten. Wenige von ihnen hatten eine Wohnung in der Stadt, in die sie ausweichen konnten. Dort gab es Restaurants, Lichtspieltheater, Opern- und Konzerthäuser und manch andere Etablissements wie Nachtlokale und Bordelle.
Der Herr von Pferdeknecht August war dagegen, wie andere seines Standes auch, an die gutsherrliche Scholle gebannt. Deshalb besuchten sie sich, jetzt im Winter, auf ihren Klitschen gegenseitig, um ihre Langweil durch Wein und Schnaps in Kurzweil zu ersäufen. Die Schlittenpferde wurden vorsorglich in Ställe untergebracht, die Schlittenkutscher sich selbst überlassen. Irgendwann dann nach Mitternacht torkelten die nunmehr bis zur Halskrause vollgesoffenen Herren heran, kletterten in ihre Schlitten, wurden mit dem Pelz zugedeckt und begannen zu schnarchen. Der letzte Gutsherr war endlich verstaut, die Kutscher knallten mit der Peitsche, und los ging das wilde Pferdeschlittenrennen. Nicht so bei Knecht August. Dessen Rittergutherr wollte selbst knallen und peitschen. Er wollte dem Kutscher die Zügel aus den Händen reißen, wollte. Doch das nicht mit Knecht August! Der zog dem Erlauchten mit der Pferdepeitsche eins über den Schädel.
Wieder nüchtern, mit einer mächtigen Beule am Kopf, tobte der Gutsherr am Tag darauf wild durch das herrschaftliche Haus. Doch alles Toben und Wüten und Schreien brachten Pferdeknecht August nicht herbei. Der blieb verschwunden, den ganzen Tag, die Tage darauf, die Woche, den Monat, er wurde nie mehr in Ostpreußen gesehen.
Die Flasche des 38-Prozentigen war von uns getrunken, von mir als Medizin, von Großvater August aus Mitgefühl für mein Leiden. „Es heißt, der Enkel wird wie der Großvater“, rumorte es in mir weiter. Wie war er, mein Großvater? Er war also geflüchtet von Ostpreußen nach Berlin. Geflüchtet, weil er befürchtete, der Gutsherr werde ihn eigenhändig züchtigen oder ihn vor den Kadi schleppen. Aber wie sollte es nun weitergehen, in Berlin, in der großen Stadt, alles ungewohnt dort für ihn? Flüchtlinge haben eines gemeinsam: Wenn die Angst oder die Euphorie verflogen, setzt wieder das normale Denken ein: „Wozu hast du gesunde Beine? Vor der Polizei oder deinen Widersachern wegzulaufen! Wozu hast du gesunde Hände und Arme? Um zu arbeiten!“
Mein zukünftiger Großvater brauchte Arbeit. Gelernt hatte er. Ja, was eigentlich? Mit Pferden umzugehen, Kutscher also war er. Und als solcher fing er in der Wäscherei Seefeld in Köpenick an, als Kutscher. Die zu waschende Wäsche kutschierte er von den Filialen der Wäscherei in Berlin nach Köpenick und die gewaschene wieder retour zu den Filialen in Berlin.
Und auch das haben die Flüchtenden damals wie heute gemeinsam, sie bleiben nicht lange allein. Mein zukünftiger Großvater schrieb seiner Braut Auguste, sie solle zu ihm nach Berlin kommen, er stehe in Arbeit, und auch eine Unterkunft für beide sei da. Und sie kam, in der Belforter Straße war neben anderen Dialekten nun auch das Ostpreußische Plattdeutsch zu hören.
Die 31. Volksschule für Knaben stand in der Pasteurstraße. In sie wurde ich Ostern 1939 eingeschult. Großvater August wohnte mit Auguste, meiner Großmutter, auch in der Pasteurstraße, Nr. 38, im Vorderhaus, im obersten Stockwerk, dem vierten. Seine Kinder, also mein Vater Erich, meine Tante Erna und mein Onkel August, waren alle schon sehr erwachsen, hatten geheiratet, Kinder gezeugt, nur Onkel August hatte aus all dem sich herausgehalten. Er war mehrmals verlobt, z. B. mit der Tochter des schwerreichen Zigarren-und Zigarettenhändlers, der eines seiner Geschäftsfilialen im Parterre des Hauses Pasteurstraße 38 betrieb.
Der Zigarrenhändler war eine imposante Person, er trug einen grauschwarzen Mantel mit Pelzkragen, einen Hut auf dem Kopf, und einen Stock mit Elfenbeinknauf schwenkte er in der linken Hand. Er hatte ein großes schwarzes Sechs-Personen-Automobil, eine Villa mit einem riesigen Garten in einem Villenvorort Berlins. Eines Sonntags fuhr die Zigarrenhändlerfamilie zur Villa. Onkel August als Verlobter der Tochter gehörte quasi dazu, und mich hatten sie als kleinen Anstands-Wauwau mit eingeladen. Mir gefiel die Fahrt in dem großen schwarzen Sechs-Personen-Automobil, zumal es meine erste Autofahrt war.
Der Garten imponierte mir nicht, unser Schrebergarten in der Wehlauer Straße war viel kleiner, aber er hatte Obstbäume, Birnen, Äpfel, Kirschen, und der von Großvater August in der Kniprodestraße erst recht. Warum Onkel August die Zigarrenhändlertochter dennoch nicht heiratete? Ich weiß es nicht, vielleicht hatte er nicht den richtigen Stallgeruch.
Wenn ich morgens zur Schule trabte und nach Schulschluss wieder zurück zu unserer Wohnung, Hufelandstraße 30, kam ich an der Nummer 38 in der Pasteurstraße vorbei. Auf dem Balkon stand meine Großmutter Auguste, winkte mir zu und rief: „Kumm ruff, hab wat Scheenes zu essen!“
Die Mehrzahl meiner Klassenkameraden wohnte im Hinterhaus, also im Quer- oder im Seitenflügel. Wir wohnten im Quergebäude, im 1. Stock. Die Wohnung gehörte der alten Oma, sie war die Adoptivmutter meiner Mutter. Wir nannten sie alte Oma, weil die andere Oma die jüngere Oma war. Wir waren quasi Untermieter der alten Oma. Davor waren wir Laubenpieper. Und das kam so.
Jung-Erich, der später mein Vater wurde, war kein Kraftprotz. Im Gegenteil, er war schmächtig, nicht groß, anfällig gegen Krankheiten. Das macht die Berliner Luft, meinte sein Vater August, dem fehlt Landluft, der muss zu den Großeltern nach Ostpreußen. Und so erfuhr Jung-Erich, dass Landluft nach Kuh und Pferd roch, seine stadtgeschwächten Lungen gesundeten und er über die Stoppelfelder barfüßig laufen lernte und bald auch ostpreußelte. Nicht Landflucht, sondern Stadtflucht war zukünftig sein Panier.
Was den Stadtmenschen heute ihre Datsche, das war Jung-Vater Erich sein Traum von einer Klitsche am Stadtrand von Berlin. Nur das Geld dafür fehlte. Es reichte nur für die Pacht einer Parzelle in einer Laubenkolonie. Und die fand er in der Wehlauer Straße in Prenzlauer Berg, neben der dortigen Volksschule. Wir wohnten dort sommers wie winters. Geheizt wurde in der Küche mit einem Petroleum fressenden Ofen. Schlaf- und Wohnstube profitierten, gemäß dem physikalischen Gesetz, was an aufgewärmter Luft in sie einströmte. Bruder Kalle und ich, wir waren es zufrieden, mit dem Leben dort in Natur. Schulpflichtig waren wir noch nicht, und so suchten wir uns an jedem Tag unsere kleinen Abenteuer.
Vater Erich radelte morgens zur Fabrik, und Mutter Irmgard wurde Zeitungszustellerin, um das vom Vater zugeteilte Haushaltsgeld aufzubessern. Denn Vater musste zwar als Bügler in einer der Schneiderfabriken am Moritzplatz in Berlin Mitte schwer schuften, wurde aber dafür nur leicht entlohnt.
Jeden morgen früh um fünf Uhr warf der Zeitungszubringer, das waren Radfahrer, die auf ihrem Gepäckträger einen riesigen Turm Zeitungen von der Ausgabestelle im Mosse-Zeitungshaus in Mitte zu den Zeitungszustellerinnen ausfuhren, den für meine Mutter bestimmten Zeitungspacken über das Tor zur Laubenkolonie.
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