1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 Sie sagte es auch. Stand unbeholfen an dem festlich gedeckten Tisch und bat um Entschuldigung für dieses bescheidene Geschenk. Aber Rakel drückte sie beide an sich. Ihre Augen glänzten und sie schüttelte energisch den Kopf. Dann stellte sie den Glaskrug auf den Tisch zwischen das kostbare Geschirr, als ob es ein Kristallkrug wäre. Die Kerzen warfen Schatten auf den Krug. Er fing an zu leben, meinte Tora.
»Nein, wie fein du dich gemacht hast … Ich hätt auch das gute Kleid anziehen sollen … ich hätt es trotz allem tun sollen. Ich hab nicht so weit gedacht …«
»Puh, es ist doch egal, was man anhat«, sagte Rakel mit auffallend lauter Stimme und sah auf Simons Jacke, die über der Stuhllehne hing.
Er grinste den anderen breit zu, hinter Rakels Rücken. »Sie will partout, dass ich mich lächerlich mach und hier im Haus die Jacke anzieh, nur weil sie fünfunddreißig wird. Und das auch noch mitten in der Woche. So ’n Unsinn!«
»Simon!« Rakel drehte sich auf dem Absatz um und drohte ihm mit geballter Faust. Ingrid lächelte matt.
Tora setzte sich vorsichtig in einen der Sessel. Es ist genau wie früher, dachte sie. Genau wie früher. Wenn dieser Abend doch ewig dauern würde … Sie sah das ganze Leben voll solcher Abende vor sich. Saß in dem Sessel und platzierte Frits und Gunn und Randi und Sol in die anderen. Sie hörte die Mutter mit Rakel über harmlose, alltägliche Dinge sprechen. Sie sah, dass Onkel Simon die Schnapsgläser und das Limonadenglas von neuem füllte, während er Grimassen schnitt und Ingrids und Rakels Reden lautlos imitierte und Tora zuzwinkerte.
Und Tora zwinkerte zurück.
Hinter dem Glimmerfenster im Kamin tanzten Schatten, die eine wunderbare Geborgenheit schenkten. Alles war genau wie früher. Das andere – das war nur ein nächtlicher Albtraum, ein schrecklicher nächtlicher Traum. Nur ein eingebildetes Geschehen. Und sie nahm all das Schöne mit nach Berlin. Sie schob ganz Bekkejordet und alle zusammen, auch die Katze, in das große weiße Haus der Großmutter.
Rakel hatte Hammelbraten gemacht. Dazu gab es Preiselbeeren und Gemüse. Simon schnitt den Braten auf und sie setzten sich zu Tisch. Ingrid hatte hoch oben auf jeder Wange einen kreisrunden roten Fleck. Sie wehrte ab, als Simon ihr Glas wieder füllen wollte. Aber er nötigte sie. Sie sah froh aus. Tora blickte sie lange an. Hörte dem Gespräch zu. Simon hörte meistens auch nur zu. Gelegentlich konnte Tora merken, dass die Stimme der Tante sehr hoch und ein kleines bisschen schrill war, als ob die Tante Angst hätte, dass Simon oder jemand anders etwas Falsches sagen oder tun könnte.
Ja, Simon sprach übrigens nur einmal von dem Neubau. Aber Ingrid nickte und hörte ihm ruhig zu. Wischte sich mit der Serviette den Mund ab, bevor sie ihm antwortete, dass es wohl nötig gewesen sei. Tora hatte nicht gewagt, aufmerksam zu verfolgen, was da nötig gewesen sei.
Spätabends gingen sie im Mondschein nach Hause. Der Regen war vorbeigezogen. Alles war schön. Es war bitterkalt in den dünnen Damenstrümpfen. Aber Tora achtete kaum darauf. Sie hakte sich bei der Mutter ein und hörte, wie es unter ihren Schuhen knirschte. Über dem Moor stieg aus dem Nichts langsam dünner, durchschimmernder Nebel auf. Beinahe wie Märchenschleier. Sie sprachen nicht miteinander. Gingen nur. Einmal gähnte Ingrid. Aber es war nicht das Gähnen, das Tora oft hörte, wenn die Mutter mutlos oder irritiert war oder am liebsten geweint hätte. Nein, es war ein gutes, müdes Gähnen.
Um den Mond hingen ein paar Wolken. Aber er tat so, als ob er sie fortjagte, sobald er hervorkam. Er schien jedenfalls während des ganzen Heimwegs.
Ohne es sich selbst erklären zu können, fiel Tora plötzlich die Geschichte von der Weihnachtsnacht und dem Jesuskind und dem Stern ein. Der leuchtete den Hirten durch die Nacht bis hin zum Stall.
»Die Tante hat nur uns.«
Das fuhr ihr so heraus. Ein Gedanke gebar den nächsten. Der Gedanke wurde ausgesprochen.
»Sie hat ja keine Kinder … meine ich«, fügte sie schnell hinzu.
Ingrid blieb einen Augenblick stehen und sah die Tochter an. Sie war groß geworden in diesem Herbst. Ingrid hatte es bisher gar nicht richtig bemerkt. Tora wirkte besonders groß und krumm im Mondschein. Es liegt ein sonderbares Licht über dem Kind, dachte Ingrid.
»Nein …«, sagte sie, »sie hat nur uns. Dich.« Dann gingen sie weiter.
Der Wind wurde stärker, es sah so aus, als ob das schlechte Wetter vom Tage sich fortsetzen würde und nur ein Zwischenspiel eingelegt hätte – eine Atempause.
Das ganze Tausendheim war dunkel. Nur die zwei waren draußen und trieben sich in der Nacht herum, mitten in der Woche. Sie schlichen die knarrende Treppe hinauf. Lächelten einander an und schnitten Grimassen, wenn sie aus Versehen auf eine besonders ächzende Stufe traten.
Als die Mutter im Bett lag, schlich Tora wieder in die Küche. Setzte sich ganz leise auf die Torfkiste, nachdem sie die Ofentür geöffnet hatte. Vorsichtig, vorsichtig.
Hielt die bloßen Füße gegen die Glut. Es lag eine ganze Welt von Schatten, Licht und Farben in der Glut. Sie legten immer gut nach, bevor sie ins Bett gingen, dann konnten sie am nächsten Morgen mit der Glut neu einheizen.
Sie hatte kein anderes Licht als den Mond, der durch die Fenster schien – und die offene Ofentür.
So sollten die Herbsttage sein! Trocken und voll Ofenwärme und Mondschein. Das Tuckern eines Bootes in der Bucht und sanfter Wind im Ebereschenbaum. Die roten Büschel schlugen leise gegen das Fenster. Man sollte sie nicht sehen. Nur ganz still auf der Torfkiste sitzen und lauschen und wissen, dass die Beeren intensiver rot waren denn je. Der Abend sollte lang sein wie ein kostbarer Sommertag, mit dem Mondlicht von oben und der Dunkelheit von unten. Und trocken! Die Füße sollten nackt sein, man sollte das Gefühl haben, dass sie vom übrigen Körper getrennt waren – in der schwachen Wärme des Ofens. So!
Und die weiße Uhr sollte ticken. Tagsüber hörte man sie nicht. Durch die Tage schlug sie sich nur aus Trotz. Aber jetzt war sie auf friedliche Laute eingestimmt. Rund und schön tickte sie – und band alle Dinge zusammen, so wie es sich gehörte.
Die Insel hatte jetzt einen glasigen Schimmer. Das Meereslicht lag kalt und unbarmherzig über den dunkelgrünen, abgemähten Wiesen. Das Gestrüpp überall hielt mit aller Macht die gelben Blätter fest. Nässe und Nachtfrost hielten einander in eiskalter Umarmung. Grün schimmerte das Meer, tagaus, tagein. Ohne eine einzige Schaumkrone. Ohne einen einzigen grauen Regenschauer. Der Himmel war das Seltsamste. Hoch und hell – als ob es April wäre und die große Außenlampe den ganzen Tag brannte. Die Linie zwischen Meer und Himmel leuchtete bis weit in den Abend hinein. Es war, als ob der Herrgott in diesem Jahr den Herbst überspringen wollte.
Trotzdem machte das Schlachten die blutige Runde in den Höfen. Die Schafe hatten wochenlang die letzten Heureste verzehrt. Jetzt war ihr Schicksal besiegelt. Der Schlachter war ein wohlgelittener Mann. Er hatte eine Frau und sechs Kinder in Sørbygda. Er aß und trank herzhaft. Und wo er hinkam, fehlte es ja selten an Frischfleisch.
Rakel konnte sich an diesen Teil der Schafzucht nie gewöhnen. Sie stand über dem dampfenden Blut und hätte sich am liebsten übergeben. Wurde abgelöst und ging zum Kochen ins Haus. Frische Fleischsuppe mit viel Kohl und Mohrrüben. Es schien zu dampfen. Eine Art feuchtkalter Dampf. Auch wenn er heiß war. Von Suppe und Blut und Blutklößchen und Blutpudding. Dampf aus dem Innersten und Gierigsten des Lebens. Urdampf. Mehrmals dachte sie, dass sie die zwei oder drei Tage, die es dauerte, nicht durchhalten würde. Aber sie schaffte es immer, die Rakel. Immer! Und im Dezember fing sie so allmählich an, sonntags Fleisch zu essen wie andere Leute auch. Aber vor und nach dem Schlachten war sie Brotesserin. Sie kochte das Fleischgericht nur für die Arbeitsleute und Simon. Sie pflegte zu sagen, dass sie schon gegessen oder dass sie zu viel zu tun habe, um am Tisch sitzen zu können. Sie lief ein und aus und war sehr beschäftigt. Es war zur Schlachtzeit außerordentlich angenehm in Bekkejordet, das fanden alle, die dorthin kamen. Aber Rakel kannte weder Rast noch Ruh. Sie arbeitete wie ein ungestümer Südwestwind.
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