War der gestrige Abend der traurigste im Zusammenleben von Familie Schwarz mit Yippie, so war diese Heimkehr sicherlich die fröhlichste, die es bisher gegeben hatte. Herr Schwarz griff sofort zum Telefon, um seiner Frau von der Freude zu berichten. Sie wollte schnell von der Arbeit heimkommen, aber er hielt sie davon ab. „Ich erzähle dir am Abend alles ganz genau und ausführlich. Bei mir ist es jetzt Zeit für die Praxis und die Jungen müssen allmählich in die Schule. Ich nehme Yippie in die Sprechstunde mit, melde ihn bei der Tierärztin an und die Jungen gehen gleich nach der Schule mit ihm hin.“
Yippie war schon ein paar Mal mit in der Praxis gewesen. Dort hatte er ein bequemes Körbchen im Aktenraum, von wo aus er Dr. Schwarz im Sprechzimmer hören und sehen konnte, und immer wenn Patienten Yippie bemerkten, ging es ihnen gleich besser. Der Doktor fragte natürlich stets, ob jemand Angst vor Hunden habe, was beim Blick auf den freundlichen Junghund regelmäßig verneint wurde. Außerdem war Yippie an einem Haken hinter seinem Körbchen mit einer langen, bequemen, weichen Leine festgemacht, sodass er niemanden belästigen, aber auch nicht entwischen konnte. An diesem Morgen dachte er an nichts anderes als an Futter und Schlaf. Als Doktor Schwarz die Praxis für die Mittagspause schloss und nach Hause fuhr, rollte sich Yippie ganz artig auf dem Rücksitz zusammen und schlief noch einmal ein. Kai und Thomas waren von der Schule zurück und hatten auch schon gegessen, sodass sie gleich zu einem Spaziergang aufbrechen und dann pünktlich zum verabredeten Termin beim Tierarzt sein konnten. „Lasst ihn auf keinen Fall von der Leine“, ermahnte Herr Schwarz seine Söhne, bevor sie sich auf den Weg machten.
In der Tierarztpraxis waren sie in der Tat die Ersten und Frau Dr. Weißberger konnte sich viel Zeit für sie nehmen. Kai und Thomas erzählten den Vorfall genauso, wie ihre Eltern ihn geschildert hatten, und die Ärztin schüttelte einige Male den Kopf. „Ich glaube, ihr wisst überhaupt nicht, wie viel Glück ihr hattet“, sagte sie und dann machte sie den Jungen klar, dass Yippies Verhalten an der Tankstelle für einen Hütehund völlig normal war. „Hütehunde hassen es, wenn ‚die Herde‘ auseinanderläuft. Eure Mutter hätte die Leine schon doppelt festhalten und Yippie ablenken müssen, dann wäre er vielleicht nicht zu seinem Herrchen gerannt. Das müsst ihr euch auch für alle Spaziergänge merken. Aber nun lasst mal sehen, ob der kleine Kerl größeren Schaden genommen hat, als er mit dem Auto zusammenstieß.“ Sie untersuchte Yippie gründlich. „Nein, es scheint alles in Ordnung zu sein. Hier an der Schulter, da ist eine kleine Schwellung – ein Bluterguss, aber wirklich nichts Schlimmes. Und ihr sagt, er sei mit eurem Vater im Auto nach Hause gekommen?“ Die Jungen nickten. „Das zeigt, dass er sehr starke Nerven hat. Manche Hunde hätten nach so einem Erlebnis solche Angst vor Autos gehabt, dass sie kaum noch in eines eingestiegen wären. Ihr habt auch da sehr viel Glück gehabt. Ab jetzt passt ihr doppelt auf ihn auf.“ Kai und Thomas nickten lebhaft. „Aber bitte, sagen Sie, Frau Doktor, wie konnte Yippie zur Tankstelle zurückfinden? Vater hat uns erzählt, dass er neben der Zapfsäule saß, genau wo er Vater zuletzt gesehen hatte“, fragte Thomas, und Kai fügte hinzu: „Ich habe mal was von Tiertelepathie gelesen, sicher hat er auf telepathischem Weg herausgefunden, wo er hinlaufen musste, denn wir haben doch alle so sehr an ihn und an die Tankstelle gedacht.“
Die Tierärztin lächelte. „Das ist nicht völlig auszuschließen, aber ich glaube, es gibt eine andere Erklärung. Ich kann euch das noch schnell erzählen, bevor die Sprechstunde beginnt.“
„Bestimmt hat er sich den Weg zurück erschnuppert“, meinte Thomas, aber Kai wehrte ab. „Das ist ganz ausgeschlossen, denk doch nur: Es regnete in Strömen, dazu der Wind und der Gestank der vielen Autos – nein, eine Nasenarbeit scheidet aus. Und schließlich: Wie hätte er wissen können, wie eine Tankstelle riecht …?“ Thomas nickte, das alles sah er ein.
„Nein, Nasenarbeit war es nicht“, bestätigte auch die Tierärztin. „Es war vielmehr die Landkarte im Kopf“, und dann erklärte sie den Jungen die Fähigkeit verschiedener Tierarten, von beliebigen Stellen aus zum Startpunkt eines Jagdzuges oder sonstigen Weges zurückzukehren. Kai und Thomas verstanden das alles, aber als sie am späteren Nachmittag versuchten, ihrer Mutter wiederzugeben, was Frau Weißberger ihnen erklärt hatte, konnten sie die Einzelheiten doch nicht mehr in den richtigen Zusammenhang bringen, und so rief Frau Schwarz am Abend die Tierärztin an. Nach einer höflichen Frage, ob sie so spät noch stören dürfe, hörte sie einen langen und spannenden Vortrag über die Orientierungsfähigkeiten verschiedenster Tiere und vor allem der Hunde: Hunde und ihre wilden Vorfahren, die Wölfe, können auf ihren Jagdzügen sehr weit von ihrer Höhle weglaufen und jagen und trotzdem immer auf dem schnellsten Weg nach Hause finden. Sie müssen nicht den ganzen Weg zurücklaufen, den sie auf dem Hinweg genommen haben, vielmehr scheint es so, als hätten sie eine Landkarte ihres Streifbereichs im Kopf, könnten von jedem Punkt aus den kürzesten Weg zum Ausgangspunkt „berechnen“ und ihn dann auch wählen. Freilich ist das in der Wildnis leichter als in Städten, wo Häuserzeilen unüberwindliche Hindernisse und Straßen voller Gefahren sind. Trotzdem gelingt es auch in der Stadt entlaufenen Hunden bisweilen, ihren Heimweg selbstständig zu finden, allerdings müssen sie dabei sehr viel Glück haben, damit sie nicht überfahren werden. Hütehunde besitzen die Fähigkeit des Zurückfindens in besonders hohem Maß, weil sie oft in weiter Entfernung vom Schäfer agieren müssen. „Allerdings sollten Sie sich nicht darauf verlassen, dass Yippie immer zurückkommt“, schloss die Tierärztin ihre Erklärung. „Nein, nein, wir passen jetzt oberdoppeltgut auf ihn auf“, meinte Frau Schwarz. „Und wenn es auch gar nichts Übernatürliches ist, so grenzt es für uns doch schon fast an ein Wunder, dass Yippie als junger Hund es geschafft hat zurückzufinden.“
Frau Weißberger verkniff sich die Bemerkung: Eben typisch Border Collie. Sie wollte den gefährlichen Ruhm der Rasse nicht noch verstärken. So verabschiedeten sich die beiden Damen, dankbar und glücklich darüber, dass ein gefährliches Abenteuer einen so guten Ausgang genommen hatte. Und ich war dankbar, dass Herr Dr. Schwarz mich am gleichen Abend noch einmal anrief, um die Freude der Familie mit mir zu teilen.
Die Cocker Hündin Anja
Simone Kunde
Hinein ins Gedränge. Wieder hatte ich Probleme, am Ende der vielen Hundekörper die Tür zu erreichen, vor der sie sich versammelt hatten, um nach draußen zu gelangen. Ich ließ mich – wie schon so oft – nach vorn fallen, mit der ausgestreckten Hand auf den Türgriff zu. Geschafft. Langsam drückte ich die Klinke hinunter und zog die Tür vorsichtig auf. Ohrenbetäubender Lärm erfüllte den kleinen Flur. Dann schossen sie hinaus ins Freie. Mit ihnen die Geräuschkulisse. Es waren fünf Hunde, Bologneser Mama Amrei mit ihren drei Halbstarken und Cocker Spaniel Anja. Sie alle trieb es in die Natur. Heute schien endlich mal wieder die Sonne.
Menschen sind langsam. Als ich mit meiner dicken Jacke aus der Tür trat, erwartete Anja mich bereits. Hoffnungsvoll schaute sie mich mit ihren dunkelbraunen treuen Augen an. Cocker haben einen etwas traurigen Blick, was wahrscheinlich an den langen schweren Ohren liegt, die wie Zöpfe ihr Gesicht umrahmen. Ich fühlte mich ertappt und irgendwie schuldig. War ich es doch, die zu den Hunden gesagt hatte: „Jetzt fahren wir los.“ Anja war sicher, dass dieses „Jetzt“ sofort hätte beginnen müssen. Doch ich hatte sie warten lassen, wenn auch nur wenige Minuten. Der Blick eines Cockers öffnet das Herz und lässt einem jeden Egoismus bedauern. Anja lief voraus zum Auto, ihrem Auto. Freudig wedelte der Schwanz mit dem Hund. Ich kenne sonst keine Hunderasse, die solch eine Wedel-Technik beherrscht. Ähnlich einer Laolawelle zieht sich das Wedeln von der Schwanzspitze zur Hundenase.
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