Als ich das Gespräch beendet hatte – ich hatte Dr. Schwarz geradezu angefleht, sich keinen Border Collie zu kaufen –, war ich überzeugt, ihn nie wiederzusehen. Denn ich weiß aus Erfahrung: Wenn jemandem von einem fest gefassten Plan abgeraten wird, kommt der Betreffende nicht wieder. Umso erstaunter war ich, als Dr. Schwarz beim nächsten Informationsabend für Welpenerziehung prompt mit der ganzen Familie auftauchte (ohne das Hausmädchen, das musste Yippie Gesellschaft leisten, der bereits bei Familie Schwarz eingezogen war). Er könne gar nicht verstehen, warum ich ihm von einem Border Collie abgeraten habe, Yippie sei der bravste, ruhigste Hund, den man sich denken könne, berichtete Dr. Schwarz und die ganze Familie stimmte zu und sang Yippies Loblied in den höchsten Tönen. Dass ein acht Wochen alter Welpe die ersten Tage im neuen Heim viel schläft und einen ruhigen Eindruck macht – wen wundert’s! Das kleine Gehirn muss eine solche Fülle von Eindrücken verarbeiten, dass dies allein schon müde machen kann, und auch die Anwesenheit von zwei sehr lebhaften Jungen kann so ein Hundchen schon dazu bringen, öfter mal den Schutz des Körbchens aufzusuchen, denn dort durften die Jungen ihn nicht stören. Und von der strengen Stimme, mit der ihr Vater dieses Gebot erläuterte, konnte ich schließen, dass er da wohl nicht mit sich – und dem Hund – spaßen lassen würde. Die anderen Teilnehmer waren längst gegangen. Nun war es an mir, geduldig zu sein und ein Dutzend Fragen sorgfältig zu beantworten, bis schließlich Frau Schwarz sagte: „Enno, es ist genug, die Jungen haben morgen früh Schule.“ Wir verabschiedeten uns und ich sagte, was ich in solchen Fällen immer sage: „Wenn sich ein Problem ergibt, können Sie mich getrost anrufen.“ Auch das ist ein Service des Tierschutzvereins, denn uns liegt viel daran, dass kein Hund im Tierheim landet, weil die Besitzer mit seiner Erziehung überfordert sind.
Der Anruf, mit dem ich eigentlich fest gerechnet hatte, kam nicht. Soll ich sagen: zu meiner Freude? Ich zögere, denn mir scheint nachträglich, ein paar weitere Gespräche hätten den frischgebackenen Border-Collie-Besitzern vielleicht doch gut getan. Allerdings – und das war nun wirklich zu meiner Freude – sah ich öfter an den Samstagen, an denen ich zufällig im Tierheim zu tun hatte, Familie Schwarz mit Yippie in der Welpen-Spielschule. Natürlich war Yippie der Star dieser Vormittage, denn gelehrig, wie er war, fielen ihm die einfachen Übungen, die die Welpen absolvieren, außerordentlich leicht. Dann verlor ich Familie Schwarz und Yippie aus den Augen, bis ich einmal mein Patenkind auf ein Schulfest begleitete. Auf dem Heimweg durch eine der gepflegten Siedlungsstraßen sahen wir einen Border-Collie-Junghund, der bemerkenswert unabhängig die Straße querte, noch weit vor unserem Fahrzeug, aber immerhin alleine. „Den kenne ich“, sagte die Mutter meines Patenkindes. „Der läuft hier öfter frei rum. Gehört einem Arzt, Dr. Schwarz, und ist der Liebling der ganzen Siedlung.“ Beim Namen Schwarz wurde ich natürlich aufmerksam und eine Rückfrage ergab, dass es in der Tat niemand anderes war als Yippie, der Hund, dem ich so gern eine andere Familie gegönnt hätte. Ich berichtete nun meinerseits, dass ich Yippie schon kannte, als er noch ein Wunsch in den Köpfen der Familie war, und dass er jetzt brav in die Welpenschule gehe. „Merkt man aber nicht viel davon“, meinte meine Freundin und mein Patenkind nickte altklug dazu.
Wieder vergaß ich Yippie über der Vielzahl anderer Hunde, deren Herrchen und Frauchen ich damals zu beraten hatte, bis eines späten Nachmittags im November mein Telefon klingelte. Zufällig hatte ich nicht den Anrufbeantworter geschaltet, sodass ich unmittelbar die bemüht ruhig klingende Stimme von Dr. Schwarz hörte: „Frau Petzina, Yippie ist weggelaufen, was können wir tun?“ Schnell ließ ich mir schildern, wie Yippie abhandengekommen war: Seine Familie hatte eine Tankstelle an der A 40 aufgesucht und während Herr Schwarz zur Zapfsäule ging, blieb Frau Schwarz mit Yippie auf der anderen Seite des Zubringers stehen. In einem Augenblick der Unaufmerksamkeit zog Yippie seinem Frauchen die Leine aus der Hand und rannte in Richtung seines Herrchens. Ein Maschendrahtzaun sollte verhindern, dass jemand leichtfertig auf die Fahrbahn geriet, aber Yippie, der offenbar mehr an seinem Herrchen als an seinem Frauchen hing, hatte ganz schnell ein Loch im Zaun entdeckt und sich hindurchgezwängt, um zur Zapfsäule gegenüber zu kommen. In seinem Eifer und seiner völligen Unerfahrenheit –Yippie war damals noch keine sechs Monate alt – hatte er ein Auto übersehen, das in schnellem Tempo an die Tankstelle fuhr. Er wurde angefahren und in seinem Schrecken hatte er den Versuch abgebrochen, sein Herrchen zu erreichen. Jetzt rannte er auf dem Randstreifen der Autobahn davon.
Die A 40 ist bekanntlich die am stärksten befahrene deutsche Autobahn und ganz besonders hier bei uns in der Mitte des Ruhrgebietes bewegen sich die Autos, wenn sie nicht gerade im Stau stehen, fast Stoßstange an Stoßstange fort. Herr und Frau Schwarz hatten in diesem schrecklichen Augenblick das einzig Richtige getan: Sie hatten Yippie nicht gerufen. Hätten sie es getan und hätte er noch mal versucht, die Fahrbahn zu überqueren, wäre das wohl sein sicherer Tod gewesen. So waren sie bekümmert nach Hause gefahren und hatten mich angerufen.
Ich gab all die Ratschläge, die ich in solchen Fällen immer gebe: Polizei verständigen, Tierheime verständigen, in diesem Fall sogar mehrere, da Yippie im Grenzgebiet zwischen Bochum, Gelsenkirchen und Essen entlaufen war. Im gesamten Gebiet natürlich Zettel an die Bäume hängen – das war allerdings entlang der A 40 nicht möglich, schon weil es dort keine Bäume gibt. Dazu das häusliche Telefon nicht unbesetzt lassen, denn Yippie trug sein Halsband mit einer Telefonnummer daran, und dann eben hoffen und suchen. Das Suchen brachte wenig Erfolg, auch wenn Herr und Frau Schwarz mehrfach die Autobahn entlangfuhren. Immerhin gab es einen kleinen Lichtblick: Als die Eheleute bei der ersten Umkehr in Essen-Kray die Autobahn verließen und mehrere Passanten befragten, hörten sie, dass ein kleiner schwarzweißer Hund gesehen worden war. Er war scheu und ließ sich nicht einfangen, war aber offensichtlich einigermaßen gesund und schien zielstrebig zu laufen. Die völlige Dunkelheit des Novemberabends, dazu ein starker Wind und ein kräftiger Regen machten schließlich der Suche und auch der Hoffnung ein Ende. Ob sie sich gegenseitig oder ob die Kinder ihren Eltern Vorwürfe gemacht haben, als sie zu Hause um den Tisch herumsaßen, weiß ich nicht. Sicher weiß ich nur, dass dieser Abend der traurigste war, seit Yippie bei Familie Schwarz eingezogen war. Schließlich gingen sie alle bekümmert zu Bett. Herr Schwarz hatte angekündigt, dass er sehr früh aufstehen und noch vor der morgendlichen Stoßzeit eine Suchrunde fahren wolle. Und das tat er dann auch.
Die Jungen mussten an diesem Tag erst um zehn Uhr in der Schule sein und so saßen sie noch bekümmert am Frühstückstisch, als es schon hell war. Plötzlich ertönte von der Straße her eine Hupe. „Das ist Vater“, sagte Kai, der Ältere. Er stand nicht auf, irgendwie hatte er das Gefühl, dass jetzt mit der Rückkehr des Vaters das letzte Fünkchen Hoffnung ausgelöscht würde. Doch auf einmal mischte sich Hundegebell in das Geräusch eines zweiten Hupensignals. Die Jungen sprangen auf und stürmten zur Haustür. Auf dem Beifahrersitz, neben ihrem Vater, saß – was er sonst nicht durfte – Yippie, kläffte vergnügt und wedelte so heftig, dass sein Schwanz auf dem Autositz staubte. Herr Schwarz drehte das Fenster nur einen kleinen Spalt auf. „Haustür aufmachen und Wurst herholen!“, rief er seinen Jungen zu. Selten hatten die beiden so flott gehorcht. Dann stieg er schnell aus dem Wagen, machte die Fahrertür zu und griff Yippies Leine durch einen schmalen Spalt auf der Beifahrerseite. „Yippie, hiiiiiier“, brüllten die beiden Jungen im Chor und schwenkten das riesige Stück Wurst, das sie aus dem Kühlschrank geholt hatten. Und Yippie flitzte, wie er es in der Welpenschule gelernt hatte, zu seinen beiden jungen „Herrchen“, die sofort die Leine wieder aufnahmen, die Herr Schwarz hatte fallen lassen, Yippie mit vielen Wursthäppchen fütterten, ihn ins Haus führten und flink die Haustür zumachten.
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