»Do you want a drink?« Die Stimme schnarrte mit einem Akzent, bei dem R mit einem A ersetzt wurde.
»Yeah sure – if you could catch the barkeeper«, lallte ich selbstbewusst.
»We’ll manage that, bro.«
So lernte ich Greg kennen. Der Typ machte eine dreimonatige Reise durch Europa, quatschte einfach jeden an, und er konnte trinken, als ob es kein Morgen gäbe.
»Everything is in short distance«, erklärte er mir das Europa-Faible der Australier, oder sein eigenes. »You could see eight countries within a couple of hundred miles. That’s why we come to Europe!«
Und noch eine Runde!
»You’re a cool guy, Johann.« Seine Hand schlug erschütternd auf meiner Schulter auf. Und ich musste breit grinsen, denn bei ihm klang mein Name wie »Joe’änn«. »If you ever come to Melbourne, give me a call, man. Here’s my number.«
Oder er sagte Sidney. Oder eine ganz andere Stadt.
Am nächsten Tag fuhren wir entspannt und mit dickem Schädel zurück nach Oxford. In meiner Tasche ein kleiner Zettel mit Gregs Nummer, den ich auch fast verloren hätte.
Das mit dem Verlieren und Finden scheint eine Art Muster bei mir zu sein. Die Dinge fügen sich ineinander. England war eine Art Vorbereitung. Ein erster Schritt, ein erster Zettel – den ich zum richtigen Zeitpunkt wiederfinden musste.
Zurück im kleinen Reihenhaus meiner Gasteltern, wurde ich mit Mittagessen und Tee empfangen. Als ich der Lady des Hauses die Kamera überreichte, war die Freude groß. Mit elektronischem Klicken wurde das Gerät eingeschaltet, um die Schnappschüsse zu begutachten, die ich nie sehen würde. Als wohl die ersten Bilder auf dem Display erschienen, hörte ich, wie die Gastmutter scharf einatmete. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, ihr Mann unterdrückte ein Lachen. Jedes Bild war eine besondere Sehenswürdigkeit, die von den Jungs entdeckt worden war. Carlo und Luca waren ihrem Lebenssinn gefolgt. Und hatten Titten und Hintern fotografiert. Dazwischen immer wieder mal eine Brücke, ein Tower, eine Kirche. Aber ansonsten: boobs and butts.
Trotz meines Lachanfalls bekam ich die englischen Worte zusammen, um sie zu bitten, die Bilder trotzdem an meine Familie zu schicken. Aber die Gastmutter weigerte sich verschämt murmelnd.
Die beiden Frauenfixierten habe ich nie wiedergesehen. Sportlertyp und Musiklexikon dagegen haben mich sogar noch einmal in Nürnberg besucht, und wir feierten uns ein Wochenende durch die Bars. Was die spitz lachende Koreanerin heute macht, weiß ich nicht. Ich stelle mir gerne vor, dass sie das Gewissen von Carlo und Luca ist und mit den beiden irgendwo in Italien auf einer Vespa fährt.
Mich hatte diese Reise reich beschenkt; so verabschiedete ich mich mit einem »Thank you, goodbye« und suchte mir mit dem klackenden Stock den Weg in den Bus, der mich zurück zum Flughafen bringen sollte. Drei neue Dinge im Gepäck:
Bessere Englischkenntnisse.
Einen Zettel mit einer Telefonnummer zum anderen Ende der Welt.
Und das Vertrauen in meine Möglichkeit zu reisen.
Denn diese Reise hatte mir bewiesen, dass es geht. Vielleicht deswegen, weil ich das erste Mal alleine unterwegs war. Ohne Frauen, ohne Klassenkameraden oder Kumpels. Weil es ein Testlauf war. Die Panik, die Sorge, die aufwallend sagt, du bist in einem großen Raum, den du nicht ertasten kannst, und deswegen wirst du hier niemals herauskommen, die gibt es schon immer noch. Aber England hat bewiesen, dass es nichts macht, dass die Angst manchmal da ist. Sie stößt mich immer wieder darauf, dass die Welt sehr groß, ich sehr klein, die Welt ziemlich schwierig und ich ziemlich blind bin. Manchmal muss man eben an sich selbst erinnert werden. Aber das ist okay. Jeder kann mal verloren gehen. Auch ich. Und dann muss ich eben die Arschbacken zusammenkneifen und muss verdammt noch mal jemanden fragen. Es geht einfach darum, ein bisschen Vertrauen zu haben. Und zugeben zu können, wenn die Richtung einfach nicht klar ist.
So wie jetzt.
Ich höre etwas langsame, klackende Frauenschritte, die sich in meine Richtung bewegen. Das Klacken kommt auf meine Höhe und ich wende mich ihr zu.
»Entschuldigung«, lächle ich der fremden Person entgegen. »Tut mir leid, dass ich Sie störe. Ich hab’ ein bisschen den Überblick verloren – wo ist denn die U‑Bahnstation?«
Sie bleibt stehen. »Gleich die Straße runter, junger Mann, da können Sie schon das Schild seh…«
»Rechts oder links von mir?«, lächle ich sie an und hebe leicht den Stock.
»Ach Gott, das tut mir jetzt leid. Ich hab’ nicht geseh… also, dass Sie nicht … ich führ’ Sie schnell hin.«
Sie tritt einen Schritt auf mich zu, sehr nah, und ich kann ihr schweres Parfum riechen.
»Nein, das müssen Sie nicht. Kein Problem, nur eine Richtung wäre toll«, sage ich, automatisch einen Schritt zurückweichend.
Ihre weichgecremte Hand greift mein Handgelenk, zwei dicke Ringe bilden kühle Stellen auf meiner Haut. Ihre Hand ist fleischig. Sie hakt sich unter, ihr Arm ist weich und groß und rund und ich kann durch die Berührung ihren Bauch an meiner Seite spüren, ihre Stimme kommt von etwas unterhalb von mir.
»Aber junger Mann, das ist doch ü–ber–haupt kein Problem.« Sie hat nun eine neue Betonung.
Sie dreht sich ohne Vorwarnung um und geht los. Reflexartig lasse ich den Stab nach vorne. Vertrauen ist gut, fühlen ist besser.
»Sehen Sie gar nix?«, ruft sie direkt neben mir.
Sie betont jedes einzelne Wort, als ob ich mich zu allem Übel nicht nur verlaufen hätte, sondern auch noch schwerhörig wäre. Das kann man auch manchmal erleben, wenn ein ganz besonders deutscher Mensch mit einem Menschen kommunizieren muss, der nicht deutsch klingt. Oder ganz besonders anders, also ausländisch im Allgemeinen, aussieht. Dann werden die Worte laut und auf diese ganz spezielle Art betont. Es unterstellt eine Form von Dummheit. Oder Taubheit.
»Ja, gar nix«, erwidere ich.
Ob ich es je schaffen werde, in einer solchen Situation bierernst zu sagen, dass ich sie leider nicht hören kann, weil ich taub bin, da bin ich mir nicht sicher.
»Ü–ber–haupt nix?«, fragt sie silbenhüpfend.
Die Wiederholung ist standardmäßig und gehört dazu. Programmatisch wie Werbung. Das macht man auch mit den National-Andersartigen, ich glaube deswegen wiederholen die auch immer alles. Döner mit Soße? – Ja, mit Soße. – Mit Soße. Mit Scharf? – Ja, scharf. – Mit scharf … Und so weiter.
Man erzieht zur Wiederholung. Und wundert sich dann, dass sich alle gegenseitig für dumm halten.
»Nein. Gar nichts«, sage ich zu der Werbewiederholungsfrau.
Danach ist es ein bisschen still. Ich bin zu stur, um mehr zu erzählen, sie hat ja auch nach nichts gefragt. Also bekommt sie auch gar nichts. Sie bringt mich zum Eingang der U‑Bahn, ich bedanke mich und lächle in ihre Richtung. Sie sagt mit Freude in der Stimme: »Schönen Tag noch!«
Es klingt nach einer guten Tat.
»Ihnen auch«, murmle ich, mich von der guten Tat wegdrehend, und spüre, wie die runde Spitze meines Stockes auf die geriffelte Oberfläche der Rolltreppe trifft. Über die Rolltreppe gelange ich zum U‑Bahnsteig. Ich mache zwei Schritte links von der den Stock zurückstoßenden Oberfläche und stehe in der Mitte. Hier bin ich sicher und kann auf die U‑Bahn warten.
Je länger ich an solch einem Ort stehe und warte, umso höher die Wahrscheinlichkeit, von jemandem angesprochen zu werden. Vor allem, wenn Feierabend ist. Also wenn viel los ist, die Menschen oder Leute nichts mehr zu tun haben, das sie in Zeittaktung zwingt. Da steht dann der Mann, dessen herausstechendstes Merkmal an dem Stock erkennbar ist. Er, der Blinde, steht da.
Ob man durch rumstehen hilflos wirken kann, da bin ich mir nicht sicher. Aber irgendwie scheint es so, als ob ich über die Jahre einfach nicht die richtige Haltung gefunden habe, die sagt: Ich warte hier, alles ist gut.
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