Sie schrieben jeder noch fünf Briefe und sandten sich ein Foto, dann vereinbarten sie ein Treffen in Breslau. Paul erwartete Emma in der Nähe des Bahnhofes. Sein Zug war früher eingetroffen als der ihre. Er sah sie aus der Eingangspforte des Bahnhofs treten, einen Moment verharren, dann schritt sie zögernd die Stufen hinunter. Sie trug ein blaues Baumwollkleid, das sie für dieses Treffen genäht hatte. Ihr blondes Haar umgab ihr Gesicht wie ein heller Schein. Sie gingen langsam aufeinander zu.
Paul spürte, wie bei ihrem Anblick sein Herzschlag einen Augenblick aussetzte. Mädchenhaft scheu und verhalten näherte sie sich. Unvermutet spürte er das tiefe Verlangen, dieses verletzliche Mädchen fortan zu beschützen. Paul würde dieses Bild nie vergessen: Emma in dem blauen Baumwollkleid, ihr blondes Haar, das wie ein Schein ihren Kopf umrahmte.
Emma schaute zu Paul hin und war angerührt, wie klein und zart dieser phantasievolle, geistreiche und gefühlsstarke Briefschreiber war. Wie fein seine hohe Stirn, sein schmaler Kopf, wie beherrscht seine vollen Lippen. Sie nahm seine unterschiedlich großen Augen wahr und wusste aus seinen Briefen von seinem Schicksal mit den Augenoperationen in der Kindheit und seinem Kunstauge. Sein Anblick griff ihr ans Herz. Sein kraftvoller Händedruck überraschte sie. Paul seinerseits hielt eine fleischige, weiche, warme Hand in der seinen.
Es war nicht leicht, die Nähe, die in den Briefen zwischen ihnen entstanden war, in der persönlichen Begegnung wiederzufinden, wenngleich ihrer beider Herzen überquollen von dem, was sie empfanden und sich sagen wollten. Sie gingen an der Oder spazieren. In einem kleinen Lokal tranken sie Malzkaffee. Ihr Gespräch war nun auch mündlich in Gang gekommen. Ab und zu schauten sie einander mit einem flüchtigen Blick scheu an und lächelten. Hin und wieder auf dem Weg zurück zur Bahn hatte Paul wie versehentlich ihre Hand gestreift. Am liebsten hätte er Emma beim Abschied in den Arm genommen und … ja. Er erschrak. ‚Dann hättest du alles kaputt gemacht‘, sagte er zu sich selbst.
Sie trafen sich in Görlitz. Paul zeigte ihr seine neue Heimatstadt, die Peterskirche mit der Sonnen-Orgel, den Flüsterbogen, die Arkaden am Unter- und Obermarkt. Er fuhr mit ihr zur Landeskrone, um ihr zu einem Blick aus der Vogelperspektive auf die tellerförmige Talsenke der Neiße zu verhelfen.
Einer der nächsten Briefe begann mit der Anrede: ‚Königin meines Herzens.‘ Emma wusste, ja, das ist Glück.
Sie lebte parallel in zwei Welten. Alles erschien ihr leicht. Sie konnte das Elend um sich herum für Stunden ausblenden und vergessen. Sie beherrschte ihre Arbeit, konnte zeitgleich Löhne ausrechnen, Geld sortieren, nach Stichworten einen Brief für den Chef tippen und an Paul denken. Rausch, was ich erlebe, ungeahnter Glücksrausch, dachte sie.
Ihre Kollegen betrachteten sie mit neuen Augen. Wie wunderschön Emma war, wie sie strahlte! Wie konnte ihnen Emmas Glanz bisher entgangen sein! Auch diejenigen, die sie bisher kaum beachtet hatten, machten ihr Komplimente. Den Grund ihrer Verwandlung kannten sie nicht.
Paul und Emma trafen sich mehrfach in Dresden und saßen zusammen still und andächtig in der Frauenkirche.
In der Kreuzkirche, der evangelischen Hauptkirche am Markt neben dem Rathaus, besuchten sie eine Aufführung des Weihnachts-Oratoriums von Bach. Ergriffen lauschten sie der klaren, eindringlichen Musik, den Texten und Chören. Diese Musik war wie komponiert für den schlichten, hellen Innenraum dieses Gotteshauses.
‚Wenn ich neben ihm sitze, bin ich wunschlos. Dann ist alles gut‘, dachte Emma. ‚Mit Emma zusammen zu sein, ist wie angekommen sein. Wohlbefinden und innerer Frieden‘, empfand Paul. Jeder liebte, was auch der andere liebte.
Im Frühjahr fuhren sie mit dem Ausflugsboot nach Pillnitz, um die Kamelie zu bestaunen. Dieses japanische Teegewächs, von einem Reisenden im achtzehnten Jahrhundert aus Japan nach Deutschland mitgebracht, stand in voller Blüte. Sie ließen sich berauschen von dem Zauber der vielen Tausend glockenförmigen, karminroten Blüten dieses Wunderbaumes.
In Meißen betrachteten sie die Werke der Porzellan-Kunst. Emma entzündete sich besonders für den Porzellan-Baum, dessen einzelne Blätter aus Porzellan fein gestaltet und in dem feinen Geäst aufgehängt waren. Ein Schild bat die Besucher, vorsichtig aufzutreten, um Erschütterungen des Bodens zu vermeiden wegen der Empfindlichkeit dieses Kunstwerkes. Paul hatte mehr und mehr das Gefühl, Emma öffne ihm auf eine besondere Weise Auge und Herz auf eine neue, bisher nicht gekannte Weise. Seine Welt wurde reicher.
Ein anderes Mal fuhren sie zum Elbsandstein-Gebirge und bestiegen die Bastei. Hier oben fragte Paul Emma, ob sie seine Frau werden wolle.
Sein Herz schlug bis zum Hals. Je länger er Emma kannte, umso mehr zweifelte er, ob er gut genug für sie sei. Sie kannte sich in der Musik aus, spielte drei Instrumente, sang, nähte, strickte, malerte, las gute Bücher. Sie erschien ihm perfekt und ideal als Mutter für die Kinder, die er sich wünschte. Für jeden Mann ein Glücksfall. Ich bin nicht groß, stattlich, athletisch, trage eine Brille, bin kein Typ, auf den Frauen fliegen, dachte er, erneut von Selbstzweifeln gequält, die noch seiner dunklen Kindheit entstammten.
Emma ihrerseits dachte, was kann ich diesem wunderbaren Mann schon bieten? Seit ihrer Kindheit nagte an ihr die Scham, ohne Vater aufgewachsen zu sein. Der Stiefvater konnte diese Wunde nicht heilen. Meine Familie ist arm. Gut, ich habe einen Beruf, mache meine Sache ordentlich. Aber könnte dieser geistvolle, phantasievolle, gefühlsstarke Mann nicht jede andere Frau fesseln? Mit seinem klugen Denken kann ich nicht mithalten.
Als Paul Emma seine Herzensfrage gestellt hatte, entstand eine Pause. Sie erschien Paul endlos wie zwei Ewigkeiten. Jeder von beiden rätselte, was in Kopf und Herz des anderen wohl vorginge. Pauls Knie waren butterweich. Emmas Herz machte erst einen Luftsprung, dann setzte es einen Moment lang aus. Heiß und kalt, dachte sie, gleich falle ich tot um. Dann sagte sie mit kaum gebändigter, überschwänglich glucksender Stimme: „Ja, Paul, möchte ich. Ich möchte deine Frau werden.“ Ihr fiel auf, dass sie Paul gerade geduzt hatte. Er hatte gefragt: „Fräulein Menzel, möchten Sie …“ Deshalb hielt sie sich die Hand vor den Mund und sagte: „Entschuldigung.“
„Wofür?“
„Weil ich Sie gerade geduzt habe.“
„Danke für das Du“, sagte Paul mit belegter, tiefer Stimme, „dabei sollte es bleiben, ja?“ „Kommst du noch auf ein Bier mit in den Braunen Hirsch ?“, fragt Paul seinen Kollegen Ewald. „Klar, wollte sowieso mit dir einiges besprechen.“
Sie waren zu dieser Zeit die einzigen Gäste im Lokal und setzten sich in ihre bevorzugte Fensternische. „Was hältst du von dem amerikanischen Young-Plan, mit dem endgültig die Reparationszahlungen festgelegt werden sollen?“ Paul hat leise gesprochen. Das Thema ist heikel. Die Meinungen in der Bevölkerung sind geteilt. Schnell entsteht Streit, wenn zwei entgegengesetzte Ansichten aufeinanderprallen. „116 Milliarden Reichsmark, zu zahlen bis 1988. Das heißt, auch unsere Enkel zahlen noch für unseren Krieg“, entgegnet Ewald. Paul sieht, wie ihm die Zornesröte ins Gesicht gestiegen ist. „Und trotzdem vorteilhafter als die bisherige Regelung“, wendet Paul ein. „Gewaltiges Problem“, gibt Ewald zu bedenken, „die Nazis werden da nicht mitspielen. Werden Zulauf bekommen, weil viele das so sehen wie sie: Keine Reparationszahlungen, die bis in das Leben unserer Enkel hineinreichen sollen.“
Beide heben ihren Bierkrug und nehmen lustlos einen Schluck. „Und jetzt noch der sogenannte ‚Schwarze Freitag‘ in New York. Experten befürchten, Deutschland könnte in den Sog hineingeraten mit einer schweren Wirtschaftskrise als Folge“, erwidert Paul mit gedämpfter, düsterer Stimme. „Hoffen wir, dass diese Propheten Unrecht haben.“
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