Paul machte sich Sorgen um Emma, sie könne sich bei den Patienten im Sanatorium anstecken. Deshalb bat er sie, sich bei der WKK in Dresden als Sachbearbeiterin zu bewerben. Emma wurde in Dresden eingestellt. Ihre Treffen waren nun weniger zeit- und kostenaufwendig als bisher.
Für beide ist entschieden, dass sie zusammengehören und für immer zusammenbleiben wollen. Sie heiraten im Jahr 1930 und beziehen eine Wohnung in Görlitz.
Die beiden Neuvermählten bedauerten, dass eine ersprießliche Beziehung zu Pauls Eltern nicht zustande kam. Hermine lehnte Emma ab. Paul versuchte Emma zu erklären, warum das nach seiner Meinung so war.
Durch Hermines fast übermenschliche Kraft, die immer wiederkehrenden Rückschläge und Enttäuschungen seiner misslungenen Augen-Operationen während seiner frühesten Kindheit zu ertragen, hatte sie immer neue Hoffnung aus sich selbst geschöpft. Die dämpfenden Aussagen der Ärzte wollte sie nicht hören oder verdrängte sie sofort wieder. Sie klammerte sich an die winzige Chance, die die Mediziner Paul einräumten. Ihre ausdauernde Hoffnungskraft führte zum Sieg. Im siebenten Jahr wurde es hell in Pauls vorher dunkler Welt und Paul gewann die Chance auf ein normales Leben.
„Hermine betrachtet mich seitdem als ihr Werk und ihr Eigentum“, endete Paul. „Du, meine Emma, bist für sie der Eindringling, der ihr vermeintlich die Liebe des Sohnes nimmt. Meine Liebe soll auch weiterhin nur ihr gehören. Zudem vergleicht dich Hermine mit meiner Schwester Ilse. Jeder Mensch ist anders. Hermine hat da so ihre eigenen Maßstäbe“, fügte er schmunzelnd hinzu.
Emma hatte Paul zur Verlobung Strümpfe gestrickt. Sie konnte nicht gut stricken, hatte durch ihr Klavierspiel auch wenig Zeit. Dennoch strickte sie diese Socken, um ihm ihre besondere Zuneigung zu zeigen: in jeder Masche ein guter Gedanke. Paul hatte sich über alle Maßen gefreut, mehr als über die Garnitur Bettwäsche von Hermine und Gustav.
Das war unbewusst geschehen, aber Hermine hatte das sehr wohl registriert. Sie nahm die Strümpfe, betrachtete sie kritisch und sagte später zu Paul: „Wenn deine Emma alles andere auch nicht besser kann als stricken, dann gute Nacht.“ Ihre Ilse war eine perfekte Strickerin, was Emma neidlos anerkannte. Sie konnte anderes. Das wiederum ließ Hermine nicht gelten. Es interessierte sie nicht, dass Emma Klavier, Zither, Laute spielte und wunderbar sang. Dass sie ihre Sachen selbst nähte und gute Bücher las. Spinnereien waren das für Hermine. Emma war als Schwiegertochter durchgefallen.
In den folgenden fünf Jahren erblickten drei kleine Mädchen das Licht der Welt: Marie, die kernige Ernsthafte mit der tiefen Stimme, kastanienbraunem Haar und ebensolchen Augen, Renate, die blasse, oft kränkelnde Mittelblonde mit Honigaugen wie Emma, und Ute, die strohblonde, blauäugige Jüngste, Pauls kleiner Liebling.
Emma hatte auf Pauls Wunsch ihre Arbeit bei der WKK aufgegeben, als sie schwanger wurde. Es war Pauls Stolz, seine Frau und die kommenden Kinder allein ernähren zu können.
Emma hatte versucht, ihre Sache als sparsame Hausfrau, Köchin, fantasievolle Mutter und liebevolle Ehefrau gut zu machen. Nach besten Kräften setzte sie sich ein. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihr eines Tages die Kräfte ausgehen könnten.
Als Paul eines Abends von der Arbeit nach Hause kam, saß Emma auf der oberen Stufe der steilen Holztreppe in ihrem zweiten Stockwerk, hatte die Hände vor dem Gesicht. Die Haare der aufgelösten Knoten-Frisur hingen zu beiden Seiten über die Hände. ‚Lass dich nicht so gehen‘, wollte Paul gerade empört sagen, da kam ihm Emma zuvor.
„Ich kann nicht mehr … bin völlig am Ende“, brach es aus ihr hervor. Sie weinte hemmungslos. Das Weinen erschütterte ihren ganzen Körper. Tränen liefen über ihr Gesicht und tropften auf ihre Bluse. Paul hatte geglaubt, mit Zusammenreißen, gutem Willen und eiserner Disziplin ließe sich jede Aufgabe meistern. Er lernte innerhalb der nächsten Stunden, dass dieses Rezept nur bedingt anwendbar war. Wenn die Kräfte aufgebraucht waren, die Nerven ihren Dienst versagten und der gute Wille demgegenüber schrumpfte und sich in Luft auflöste.
Emma hatte einen Tag hinter sich wie so manchen. Paul arbeitete hart, seine zusätzliche Geschäftsstelle Reichenbach ohne zusätzliches Personal beanspruchte ihn bis zu seinen eigenen Grenzen. Überstunden waren für ihn selbstverständlich geworden. An den Sonntagen zu Hause zu arbeiten, war für ihn ein Dank an das Schicksal, das es mit ihm trotz aller Startschwierigkeiten dennoch gut gemeint hatte. Auch den Urlaub ausfallen zu lassen, fiel ihm nicht schwer. Sie hätten ohnehin nicht in Urlaub fahren können. Dafür fehlte das Geld bei drei kleinen Kindern und nur einem Gehalt. Emma wollte ihrem arbeitsamen Mann ihre Sorgen nicht auch noch aufbürden.
„Marie hat dreimal das Bett vollgebrochen. Dreimal habe ich abgezogen. Die Wäsche trocknet schlecht bei dem feuchten Wetter in dem Keller da unten. Renate hatte wieder Ohrenschmerzen und jammerte fast den ganzen Tag. Die Ohrentropfen halfen nicht mehr“, Emma sprach schnell, die Tränen liefen weiter. Sie war kaum zu verstehen. Ihre Stimme war voller Verzweiflung, als sie fortfuhr: „Nur Ute war fröhlich und lächelte. Wenn ich die Kleine nicht hätte …“ Emma schüttelte den Kopf. Ihre aufgelösten Haare klebten an ihren feuchten Wangen. „Ich wollte zum Arzt mit den Kindern, stand vor der steilen Treppe. Plötzlich dachte ich: Ich werde da runterstürzen … mit dem Baby auf dem Arm. Hab nicht gewagt, da runterzugehen. Ich glaube, ich werde verrückt.“ Paul stand fassungslos vor Emma, hob sie unter dem Arm hoch und ging mit ihr in die Wohnung. Es roch nach Windeln und Erbrochenem. Die Windeln kochte Emma in dem Wäschetopf in der Küche. Der Geruch war unvermeidlich.
Paul erfuhr, Emma habe seit langem den Eindruck, dass ihre Kräfte immer weniger würden. Die zwei Treppen mit drei kleinen Kindern. Renate, die nicht nur einmal die Treppe runtergefallen war und sich ein Loch in der Stirn geholt hatte. Der Kinderwagen, der unten nicht stehenbleiben konnte. Der Hausflur war zu eng. Er musste täglich bei dem Spaziergang rauf- und runtergetragen werden. Emma sagte: „Wenn ich mal eine Nacht ruhig schlafen könnte! Wenn mal einen Taglang kein vollgebrochenes Bett wäre! Wenn mal einen Tag Renate keine Ohrenschmerzen hätte! Ich geh kaputt. Ich weiß nicht weiter. Paul, tut mir leid.“
Erschöpft! Höchste Alarmstufe, durchfuhr es Paul. Schnell musste etwas geschehen. Am nächsten Abend traf er sich mit Ewald nach Feierabend wieder in ihrer Fensternische im ‚Braunen Hirsch‘ auf ein Bier. „Kur“, sagte Ewald, nachdem er sich Pauls Leidensgeschichte angehört hatte. „Und meine drei kleinen Mädel hänge ich währenddessen in den Schornstein“, entgegnete Paul genervt, „du hast keine Kinder. Hast gut reden“, schob er aufgebracht nach. „Es gibt Kinderheime. Vier Wochen müssten doch zu vertreten sein. Vielleicht auch kürzer, wenn du deinen Jahresurlaub nimmst und mal selber euren Haushalt schmeißt.“ Paul in seiner Bedrängnis und aussichtslos erscheinenden Zwangslage tat Ewald leid. Paul war blass. Er war schmal geworden. Die Belastungen im Büro kannte Ewald. Er war selbst mittendrin. Dass drei Kinder in fünf Jahren keine Kleinigkeit für eine junge Frau und den jungen Familienvater waren, glaubte er ohne weiteres. „Wenn Emma nach vier Wochen wiederkommt, ist die steile Treppe in den zweiten Stock immer noch da. Und Emmas Angst davor. Und der feuchte Keller, in dem die Wäsche nicht trocknet.“ Paul musste sich zusammenreißen, in seiner Ratlosigkeit seinen Bierkrug nicht gegen die Wand zu schleudern oder einfach verzweifelt loszuheulen.
Ewald sah den Zustand seines Freundes, legte beschwichtigend seine Hand auf Pauls Unterarm, dann auf seine Schulter. „Wenn du den Rat eines wohlmeinenden Mitmenschen hören willst, so nicke mit dem Kopf“, sagte Ewald schmunzelnd, sein Gesicht nah vor Pauls. Paul nickte und beide lachten herzhaft. „Aber nicht gleich wieder aus der Haut fahren, wenn ich bitten darf“, warnte der gutwillige Kollege. „Geht klar“, sagte Paul und hatte sich wieder unter Kontrolle. Ewald schlug auf Pauls Schulter. „Dann noch einmal gut durchatmen.“ Paul grinste. Ewald machte eine vielsagende Pause. Zwischen Pauls Brauen entstand skeptisches Faltengekräusel. „Du kaufst ein Haus.“ Als Paul rot anlief und gerade wieder in die Luft gehen wollte, fuhr Ewald seelenruhig fort: „Ihr habt kein Geld. Völlig klar. Niemand hat Geld, der jung ist, kleine Kinder hat und ein Haus braucht. Aber gerade diese Leute kaufen Häuser. Verschulden sich. Stottern ab. Und die Kinder wachsen im Grünen auf, mit Garten, mit Hund und viel Platz. Zu ebener Erde, ohne steile Treppe. Und einer Wäscheleine im Garten.“
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