Sie bedeutete alles Feine, Unkörperliche. Sie nahm seine Hand mit ihren beiden Händen, die sich seidig und zart anfühlten. Auch Paul wagte, seine zweite Hand um ihre beiden Hände zu legen. So blieben sie einen Moment und sahen scheu auf ihre Hände. Paul vernahm seinen eigenen Herzschlag so dröhnend, dass er bangte, Selma könne dieses Hämmern hören. Was für wunderbar große Augen sie hatte, Augen, die mehr sahen, die intensiver wahrnahmen, Goethe-Augen, sann er.
Ihre Frisur trug sie noch wie damals, das aschblonde, glatte Haar in zwei schwere Zöpfe geflochten, die sie als Krone auf dem Kopf hochgesteckt hatte. Diese schweren Zöpfe hatten ihr schon früher an manchem Tag Kopfschmerzen bereitet. Aber keiner ihrer Schüler-Freunde hätte zugestimmt, sie abzuschneiden.
Während Selma Pauls Erscheinung und Ausstrahlung, seine Liebe zu ihr wahrnahm, durchbebte sie sekundenlang der Schmerz über ihren körperlichen Mangel. Ein dunkler Schleier überzog einen Augenblick lang ihr Gesicht. Schon in ihren jungen Jahren hatte sie entschieden, sich niemals zu beklagen, war ihr Leben doch auf eine andere, wundersame Weise ausgefüllt und gut. Dass sie auch ein Mensch aus Fleisch und Blut war und kein übermenschliches Wesen, hatte sie soeben verspürt. Sie schob diesen verstörenden Gedanken so schnell beiseite, wie er aufgetaucht war, und ihr Gesicht hellte sich wieder auf.
„Mein lieber Paul“, sagte Selma mit ihrer weichen, leisen, etwas brüchigen Stimme schließlich, „wie groß du geworden bist.“
„Und ich hatte dich so ehrerbietig groß in Erinnerung“, entgegnete Paul schmunzelnd. „Wie sich die Relationen wandeln, wenn aus einem Knaben ein junger Mann wird“, sann Selma und öffnete die Tür zu ihrem Wohnzimmer, das vom Nachmittags-Licht, durch das geöffnete Fenster dringend, durchflutet war. Der Tisch war mit ihrer handgestickten Tischdecke in Blau und Weiß fein gedeckt, an die er sich von früher erinnerte. Auch das Service in Blau-Weiß aus Arzberg erkannte er wieder. Paul nahm alles in sich auf wie Bilderbuchblätter aus seiner Kindheit. Auf dem Tisch stand ein Erdbeerkuchen, eine Schale mit geschlagener Sahne daneben, und ein herrlicher Kaffeeduft erfüllte den Raum. Paul fühlte sich allein durch den Duft des Kaffees erfrischt und belebt nach seiner Bahnreise. „Die Zutaten sind allesamt Geschenke von meinen Schülern“, bemerkte Selma lächelnd. „Es macht Freude, wenn weißes Mehl, Eier, Zucker und Erdbeeren nebeneinander in der Küche stehen und man nur noch anzufangen braucht mit Backen. Ich weiß, ein Luxus in diesen Tagen. Komm, wir wollen ihn genießen zur Feier unseres Wiedersehens.“ Selma nahm Paul an der Hand, führte ihn zu einem Stuhl, den sie zurechtrückte und forderte ihn herzlich auf, Platz zu nehmen. Sie schenkte den Kaffee ein, der unter einer Kaffeehaube auf der Tischmitte stand, stülpte die ebenfalls passend zur Tischdecke gearbeitete Kaffeemütze wieder über die Kanne mit dem geschwungenen Griff und setzte sich Paul gegenüber.
Nachdem die beiden Freunde gemeinsame Erinnerungen ausgetauscht hatten und sich den wunderbaren Erdbeerkuchen mit Sahne hatten munden lassen, bat Selma, Paul möge nun berichten, wie es in Görlitz beruflich mit ihm weitergegangen war.
Paul erzählte, wie er sofort nach der Ankunft der Familie in Görlitz mit einem Bank-Volontariat begonnen hatte. Sooft als möglich half er noch bei seinem Vater, wo jede Hand benötigt wurde. Im zweiten Jahr erkrankte Paul an einer Gelbsucht, die sechs Monate anhielt und ihn so schwächte, dass er kaum für einfachste Verrichtungen Kraft hatte.
Jede Woche ging er zu seiner Krankenkasse, um sein Krankengeld, drei Mark fünfzig pro Woche, abzuholen. Durch die häufigen Besuche bei der Kasse kam er mit den dort tätigen Damen ins Gespräch, auch mit der Leiterin, Fräulein Hauf. Sie klagte ihm ihr Leid, sie habe zu wenige Mitarbeiter und die Fülle ihrer Aufgaben, vor allem die Mitarbeiterführung und Gesamtverantwortung, bereite ihr häufig schlaflose Nächte. Zuweilen fühle sie sich schlicht überfordert.
Paul bot ihr seine Hilfe an, sobald er wieder arbeiten könne.
Als Paul genesen war, ging er, wie versprochen, allabendlich nach Dienstschluss zur WKK-Geschäftsstelle und half, Rückstände aufzuarbeiten. Sein Volontariat neigte sich dem Ende zu. Er konnte bei der Bank anfangen. Fräulein Hauf fragte ihn, ob er nicht als Vollzeitmitarbeiter in der WKK arbeiten wolle. Das lockte ihn mehr als das Geschäft mit Geld, und er sagte zu.
Paul verschaffte sich zunächst einen Gesamtüberblick über die Arbeitsrückstände. Sie waren größer als befürchtet. Für ihn erschütternd waren die Zustände in der Buchführung. Immer wieder blieb ihm nur ein Kopfschütteln. Ob Gehälter oder Mitgliedsbeiträge, das Durcheinander war beängstigend. Als Paul mit Fräulein Hauf darüber sprach, sagte sie mit resigniertem Schulterzucken: ‚Ich weiß, könnten Sie sich vorstellen, die Geschäftsleitung zu übernehmen?‘ Ja, Paul konnte sich das durchaus vorstellen, und er stimmte zu. Er traute sich zu, innerhalb einer angemessenen Frist Ordnung zu schaffen. Fräulein Hauf schrieb an die Zentrale, die Paul ein Jahr nach seiner Einstellung die Geschäftsleitung probeweise übertrug.
Zu seinen ersten Leitungs-Aufgaben gehörte, den Ist-Zustand zu erheben und diesen der Zentrale mitzuteilen. Gleichzeitig beantragte er eine Buchungsmaschine, die bewilligt wurde. Die Revisoren erhielten den Auftrag, die Geschäftsstelle scharf zu beobachten, weil Paul der jüngste leitende Mitarbeiter im damaligen deutschen Reich war. Oft bekam er Besuch von den Revisoren, und gewann den Eindruck, dass sie intensiver prüften als üblich. Die Berichte, die sie anschließend schrieben und mit ihm besprachen, konnten sich sehen lassen. Nach einem Jahr wurde er endgültig als Geschäftsführer bestätigt.
„Inzwischen klappte das meiste, wie ich es mir vorgestellt hatte. Die Buchungsmaschine war eingetrudelt, und in mühsamer allabendlicher und sonntäglicher, schweißtreibender Sisyphusarbeit habe ich herumgeknobelt, die Funktionen zu verstehen und mir beizubringen. Fragen konnte ich ja leider keinen“, Paul hatte stakkato-artig einzelne ihm wichtige Wörter betont und musste nun selbst über die Darstellung seiner Heldentaten lachen. Tante Selma, die während der Erzählung Pauls kerzengerade dasaß, die Beine übereinandergeschlagen, die Hände auf den Knien gefaltet, nur hin und wieder wie zustimmend mit dem Kopf genickt hatte, lehnte sich nun in ihrem Stuhl zurück. Ihr Körper entspannte sich, und auch sie lachte herzlich. Paul erzählte gut. Es machte ihr Spaß, ihm zuzuhören. Paul nahm sich bei aller Leistungskraft und Arbeitsfreude nicht wichtig, neigte eher zum Tief- statt zum Hochstapeln. Das gefiel ihr. Er war bescheiden geblieben.
Vor dem Fenster sang eine Amsel hingebungsvoll und volltönend ihr Nachmittagslied. Selma und Paul schauten beide zum Fenster und lächelten sich an. „Schön, nicht wahr?“, sagte Selma, leuchtend vor Freude.
„Möchtest Du noch Kaffee oder eventuell einen kleinen Likör, ebenfalls ein Geschenk?“
„Wenn noch Kaffee da ist und ich dich nicht schädige, gern.“ Selma nahm die Mütze von der Kanne und goss Paul den Rest ein. Sie stellte Kanne und Mütze seitlich auf einer Anrichte ab und eine bauchige Glas-Vase mit wilden Margueriten und Kornblumen auf den Tisch. „Hat mir gestern eine Schülerin mitgebracht. Vom Feldrain gepflückt. Ich mag Wildblumen so gern. Sie weiß, dass ich Kornblumen und Margueriten besonders liebe. Kleine Alltagsfreuden.“ Tante Selma sah die Blumen an, dann wieder Paul und ermunterte ihn, weiterzuerzählen.
„Ja, so ganz viel gibt’s da nicht mehr zu erzählen. Ich kämpfe noch jeden Tag mit den Tücken der Technik, was meine Buchungsmaschine anbelangt, gebe aber die Hoffnung nicht auf, dass wir beide, meine Buchungsmaschine und ich, eines Tages gute Freunde werden.“ Wieder lachten beide herzerfrischend. „Ich bin nun mal kein ausgemachter Technikfreund und würde in der Zeit lieber im Garten meiner Eltern umgraben oder Stachelbeeren pflücken und essen. Aber ein Beruf ist nun mal kein Kinderzoo. Eines Tages werde ich die Buchungsmaschine lieben, wenn wir uns noch nähergekommen sind und unsere beidseitigen Talente zu schätzen wissen. Möge dieser segensreiche Morgen bald anbrechen.
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