Ich weiß nicht, womit ich das ausgerechnet heute verdient habe, aber bereits gegen halb drei Uhr am Nachmittag steht mein Zelt auf dem wunderschönen Campingplatz an einem See in der Nähe des Örtchens Palinges. Es gibt für Radler extra Parzellen mit Tisch und Stühlen, wunderbar gepflegt für elf Euro, was in den Schnitt passt, den ich bisher für meine Zeltnächte aufgebracht habe. Ja, mit acht bis elf Euro komme ich gut aus, um meine Übernachtungen zu finanzieren.
Auf dem Campingplatz in Palinges
Ich kann es kaum glauben, als ich an meinem zwölften Reisetag Bekanntschaft mit Didier und Claudine mache, sie sind die ersten „Verrückten“, die ich treffe, die auch bis nach Constanța in Rumänien radeln wollen. Voll bepackt, mit Fahne am Rad und in gelbe Warnwesten gehüllt, auf denen Unterschriften und Sprüche stehen, sind die beiden fröhlichen Radler kaum zu übersehen. Ins Gespräch kommen wir, weil wir gemeinsam an einer Stelle landen, an der wir den weiteren Wegverlauf auskundschaften müssen und nach Schildern suchen. Das französische Rentnerehepaar ist ähnlich erfreut wie ich über dieses Gleichgesinnten-Treffen und wir sind uns auf Anhieb sympathisch, dennoch verlieren wir uns bald wieder aus den Augen, weil die zwei eine Pause machen. Als wenig später ich für ein Weilchen verschnaufe, rollen sie fröhlich winkend an mir vorbei. Ich schließe wieder zu ihnen auf und unser Wettrennen findet ein Ende. Dem Radweg am Canal du Centre gemeinsam folgend, verlieren wir uns nun im ausführlichen Gespräch. Für Claudine ist heute ein ganz besonderer Tag, der offizielle Beginn ihrer Altersrente, nachdem sie als Assistentin für Menschen mit geistiger Einschränkung oder Erkrankung gearbeitet hat. Ihr Mann Didier ist bereits seit drei Jahren pensioniert. Er war in einer Fabrik für Dämmungen oder Isolierung tätig. Die gemeinsamen Söhne, Ende zwanzig und Ende dreißig arbeiten als Architekt und Manager, leben in Paris und Lyon, während das Zuhause von meinen neuen Radlerfreunden in der Nähe von Clermont-Ferrand ist. Ungefähr drei Mal im Jahr kommt die Familie zusammen, berichtet mir Claudine – eine Frau, der die Fröhlichkeit in jedem Fältchen ihres Gesichts geschrieben steht. Ihr Lachen erklingt oft und äußerst herzlich. Als ich von meiner Arbeit als Reisejournalistin und -referentin berichte, ist sie ganz aus dem Häuschen und staunt: „Solch einen Job mache ich in meinem nächsten Leben auch.“ Wenn ich an mein nächstes Leben denke, muss ich wohl eher fürchten, ein Dasein als Regenwurm zu fristen, bei der aktuellen Karma-Bilanz …
Von meiner dunklen Vergangenheit als vermeintliche Mörderin wissen die beiden zum Glück nichts und schlagen vor, mich zu adoptieren. Ich läge schließlich altersmäßig zwischen ihren Jungs und über ein Mädchen würde sich Claudine sowieso freuen. Wir lachen viel und plaudern ununterbrochen, was der weiteren Schulung meiner Sprachkenntnisse sehr zugute kommt. Englisch oder andere Sprachen beherrschen die beiden kaum, sodass uns lediglich ihre Muttersprache bleibt. Wir haben für heute unterschiedliche Campingplätze anvisiert, weil diese aber nur wenige Kilometer voneinander entfernt liegen und wir uns so mögen, einigen wir uns auf ein gemeinsames Tagesziel: Chagny, eine 5500-Seelen-Gemeinde im Département Saône-et-Loire. Hier wählen wir für unsere Zelte zwei nebeneinander liegende Parzellen aus. Nicht lange, nachdem wir aufgebaut haben, linst Claudine über die Hecke und lädt mich zum Abendessen ein. Natürlich sage ich sofort zu.
Die hohe Esskultur der Franzosen zeigt sich sogar beim Camping, denn das Essen, was die beiden zaubern, ist um Welten besser als meine traditionelle Pasta, in die ich allabendlich eine andere Sorte Tütensuppe rühre. Hier gibt es Nudelsuppe mit frischem Brokkoli, dazu Brot, Cracker, Obst. Mein Magen freut sich über die hochwertigen Zutaten, mehr jedoch noch über die liebenswerte Gesellschaft. Während Claudine herrlich mitreißend lacht, ist Didier eher der Typ stiller Schmunzler, mit Augen, die sich mit ihm und der Welt freuen. Claudines Persönlichkeit wird von ihren frechen kurzen Haaren und der sportlichen Figur, die in einer langärmligen karierten Outdoorbluse sowie einer Funktionshose steckt, unterstrichen. Didier ist groß und drahtig, hat eine Glatze und auf seiner Nase sitzt eine Brille mit schmalem dunklem Rand, über Kinn und Wangen verteilen sich weiße Bartstoppeln. Das Bild dieser beiden Menschen auf der großen Camping-Plane, die zugleich Buffettafel ist, ist herrlich. Fröhlich schlemmen die Eheleute und bieten mir immer wieder von ihrem leckeren Brot an. Wir kommen ins Philosophieren darüber, wie gut wir es doch alle gerade haben – in herzlicher Gesellschaft, an der frischen Luft und der gleichsam reichhaltigen sowie schmackhaften Nahrung.
„Hach, was haben wir es schön. Wir dürfen die Reise machen, die uns mit dem, was der Mensch wirklich braucht, auskommen lässt“, preist die quirlige Claudine unser Beisammensein.
„Das ist es, was uns so gefällt: das simple Leben, die Natur, das Bewegen an der frischen Luft“, ergänzt ihr Mann.
„… wohlgemerkt freiwillig“, schaltet sich seine Liebste wieder ein, „wir haben diese Einfachheit bewusst gewählt. Natürlich kippt das Konzept, wenn du ohne Wohnung bist, auf der Straße leben musst, an Würdegefühl verlierst, weil du schmutzig bist, da du keine Dusche hast und nicht, weil du darauf verzichtest, wenn – wie bei uns – auch mal ein schöner Wildcampingplatz lockt.“
Ich nicke und glaube den beiden jedes ihrer Worte, als ich auf den Auslöser meiner Kamera drücke und ihre strahlenden Gesichter einfange.
Im Laufe des Abends stellen wir fest, dass wir einige Reiseerfahrungen wie Pilgertouren teilen. Die beiden haben genauso wie ich die Distanzen ihrer Radwanderungen kontinuierlich gesteigert. Mit dem aktuellen Vorhaben von 4000/5000 Kilometern soll es auch ihre bisher längste Tour auf zwei Rädern werden.
Nachdem wir uns aufgrund beginnenden Regens voneinander verabschiedet haben, sitze ich in meinem Zelt, die Beine stecken im Schlafsack und ich lächele, weil ich glücklich bin über meine neuen Bekannten. Wir ticken gleich, finden es schön, unbeschwert und aus eigener Kraft zu reisen, sind der Meinung, dass Träume angepackt werden müssen und empfinden Dankbarkeit für das Leben, welches man uns teils geschenkt, was wir uns aber auch selbst geschaffen haben. Nur in einer Sache sind wir nicht einer Meinung, etwas, das allerdings dafür sorgt, dass sich mein Glück heute sogar noch steigert: Sie mögen Vollmilchschokolade nicht sonderlich gern, sodass ich mein Gastgeschenk wieder mit in mein Zelt genommen habe, wo ich nun Stück für Stück die ganze Tafel allein aufesse. Das ist definitiv die gute Seite der Medaille …
Meine französischen Eltern
Für mich steht ein weiteres Familien-Highlight an, denn der Bruder meiner bereits verstorbenen Großmutter mütterlicherseits gründete nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Frankreich eine Familie. Ihre Angehörigen bekomme ich sporadisch zu Gesicht, zuletzt 2014 während meiner Interrailtour. Heute werden wir uns endlich wiedersehen, was mich mit großer Vorfreude erfüllt und in den Monaten vor der Reise beachtliche Triebfeder fürs Französischpauken war, denn die drei Familienmitglieder, die ich sehen werde, sprechen ausschließlich ihre Muttersprache. Einziger Wermutstropfen: Ich muss befürchten, meine neuen Radlerfreunde Claudine und Didier zu verlieren, weil ich nur knapp 25 Kilometer bis nach Chalon-sur-Saône zurücklege. Die beiden werden – wie ich sonst auch – ihre achtzig bis einhundert Kilometer rollen.
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