Ideenstiftend für die Runen waren höchstwahrscheinlich italische, etruskische sowie phönizische Alphabete. Unbekannt ist, wie sie aus dem mediterranen in den skandinavischen Raum gelangten. Wahrscheinlich waren Reisende aus dem Norden einfach davon begeistert, dass die Leute im Süden miteinander sprechen konnten, ohne dabei selbst anwesend sein zu müssen – Zauber der Schrift! Die Reihenfolge der nordischen Adaption wurde eine eigenständige, nur die Benennung erfolgte wie beim Alphabet, dem ABC, nach der Anlautfolge der jeweiligen Eingangszeichen. Bei Runensystemen: F-U-TH-A-R-K (Fehu, Uruz, Thurisaz, Ansuz, Raidho und Kenaz). Deswegen heißen typische Runensysteme „Futhark“.
Obwohl es sich nicht belegen lässt, ist es wahrscheinlich, dass Runen zunächst in Holz geritzt wurden: So erklärt sich die Abwesenheit waagrechter Striche. Gegen die Maserung geritzt, werden senkrechte und schräge am besten sichtbar: Ausschließlich aus solchen besteht das Ältere Futhark. Die ältesten Funde zeigen allerdings nur wenige Zeichen, die obendrein sehr krakelig ausgeführt sind – so sehr, dass bei manchen noch strittig ist, ob es sich dabei überhaupt schon um Runen handelt, also um Zeichen eines bereits bestehenden Älteren Futhark, oder nur um ungelenke Einkerbungen, deren mögliche Bedeutung dann noch viel unklarer wäre.
Das Ältere Futhark war vom zweiten bis zum achten Jh. in Gebrauch – das ist die Zeit, aus der es entsprechende Funde belegen. Die gemeingermanischen Namen seiner 24 Zeichen sind uns aus erst viel später entstandenen Liedtexten bekannt, von denen sich nur Abschriften aus bereits mittelalterlicher Zeit erhielten, die schon lang keine heidnische mehr war. Dennoch ergibt sich auch bei kritischer Lesart ein erstaunlich harmonisches, in sich sehr stimmiges Bild. Dieses musste allerdings erst von weltanschaulich beeinflussten Interpretationen deutscher Runenforschung bereinigt werden, die ihre nationalromantischen Wurzeln nicht verleugnen kann (und damit meine ich noch keineswegs die Auswüchse gezielten Missbrauchs durch die Nazis, deren Vordenker wie heutige Nachbeter. Davon sei später die Rede).
Umso interessanter jedoch, was uns gerade das Ältere Futhark eröffnet. Ob es tatsächlich ein raffinierter Algorithmus war, der alle wichtigen Parameter für ein harmonisches Miteinander überschaubarer Sozialgemeinschaften enthält, sei dahingestellt. Das muss keineswegs so gewesen sein – aber es lässt sich so anwenden. In dieser Hinsicht erscheint es mir nahezu einzigartig. (Aber dies mag meiner Begeisterung darüber geschuldet sein. Ich bin da sicher befangen – und erhebe weder Anspruch auf Deutungshoheit noch auf die Verallgemeinerung meiner Ansichten. Im Gegenteil: Zu Diskurs will ich anregen.)
Historisch lässt sich von ca. 200 vor bis ca. 1100 nach Christus von germanischen Kulturen sprechen: von der ersten römischen Erwähnung germanischer Stämme – der Skiren und Bataver – über die folgenden Jh.e der Völkerwanderung und ihrer Wirren bis zur endgültigen Assimilierung letzter germanischer Stammesgemeinschaften in Königreiche, die inzwischen wesentliche Teile des römischen Rechtssystems übernommen hatten. (Der Einfluss christlicher Strömungen auf germanische Kulturen hatte bereits im frühen 4. Jh. begonnen und sich von da an zunehmend ausgebreitet: dies meist wesentlich friedlicher als in neuheidnischen Kreisen unserer Tage gern beargwöhnt und vermutet wird. Die meisten germanischen Stämme aus der Völkerwanderungszeit sind uns überhaupt nur als christlich überliefert – wenn auch vorwiegend der arianischen Glaubensrichtung angehörig, die erst später dem katholischen Alleingeltungsanspruch unterlag und verschwand.)
Was es über germanische Kulturen zu lesen gibt, stammt nicht aus diesen selber. Sie gelten als schriftlos. Der Gebrauch von Runen war Eingeweihten vorbehalten, so genannten Erilar (Runenkundigen). Wer nicht zu diesen zählte, konnte die Zeichen höchstwahrscheinlich nicht entziffern, geschweige denn selber setzen. Neben dem Älteren Futhark und dem – deutlich später entwickelten – Jüngeren entstanden im Lauf der Zeit noch etliche weitere Runensysteme: das Friesische Futhark, das Angelsächsische Futhark und andere. Die Bedeutung einer allgemein verbreiteten Schreibschrift erlangten sie nie. Die Überlieferung innerhalb der Stämme war und blieb mündlich. Die frühesten (erhaltenen) Runen wurden auf Alltagsgegenständen wie Kämmen oder Schemeln angebracht – und bezeichnen meist nur den Gegenstand selbst. Andere, ähnlich knapp gehaltene Zeichenfolgen aus der Ära des Älteren Futhark ergeben überhaupt keinen nachvollziehbaren Sinn, was nahelegt, dass diese frühen Inschriften magisch intendiert gewesen sein mögen. Sie fanden sich auf Knochen, Waffen, Rüstungsteilen und Haushaltsgegenständen, später auch auf Münzen und Medaillen (so genannten Brakteaten) wieder.
Erst die Wikinger hinterließen uns aus den 300 Jahren ihrer europaweiten Seefahrten, Handels- und Eroberungszüge (vom 8. bis zum 11. Jh.) etliche tausend Gedenksteine (verteilt über weite Teile Europas, die meisten jedoch im skandinavischen Raum). Deren Botschaften beschränken sich auf das Festhalten von Einzelereignissen wie Schiffsunglücke oder Jagderfolge – in wenigen dürren Sätzen, die kaum Rückschlüsse auf Zusammenhänge zulassen. Oft besteht mehr als ein Drittel des Textes aus dem „Impressum“: der Mitteilung, welche namhafte Fachkraft die jeweiligen Runen eigenhändig auf dem Stein anbrachte und wer die Arbeit in Auftrag gab (nicht selten waren das Frauen). Ein paar späte, wortreicher geratene Ausnahmen feiern den Beitritt des jeweiligen Stammes zum Christentum…
Die Wikinger benutzten ein auf 16 Zeichen reduziertes Runensystem, das sogenannte Jüngere Futhark. Es ist mit über 6.000 historischen Funden das mit Abstand verbreitetste gewesen. Warum das Ältere (von dem nur ca. 350 Funde künden) so plötzlich verschwand, ist ebenso unbekannt wie der Grund für die erst hundert Jahre spätere Entstehung des Jüngeren und dessen Reduktion auf nur noch 16 Zeichen. (Ich traf mal einen britischen Kenner dieses Systems, der mir – soweit nachvollziehbar – seine Vermutung nahebrachte, die Wikinger hätten halt diejenigen älteren Runen weggelassen, für die sie – als Seefahrer – keine Verwendung mehr hatten. Was zu meiner Auffassung von Runen als hauptsächliche Sinnzeichen passt, denen eine komplexere Bedeutung innewohnt als einem bloßen Buchstabensystem – aber das ist natürlich nicht belegbar.)
Lassen wir die wenig beredten Runeninschriften allesamt – sowie die wenigen lateinischen Buchstaben aus germanischer Hand (wie z.B. die rätselhafte Ein-Wort-Kritzelei „Harigasti III Il.“ auf dem „Helm von Negau“ als älteste germanische Inschrift überhaupt) – beiseite: Alle uns erhalten gebliebenen schriftlichen Aufzeichnungen, die von germanischen Kulturen künden, stammen von Außenstehenden – die größtenteils nicht einmal Zeitzeugen waren.
Die Edda, die reichhaltigste Niederschrift nordischer Götter- und Heldensagen, entstand im 13. Jh. auf Island – das um diese Zeit schon 300 Jahre lang christlich war. Der Verfasser Snorri Sturluson bediente sich der alten Geschichten nach Gutdünken – wir wissen nicht, was er weggelassen, abgewandelt, zusammengefasst, gekürzt oder dazuerfunden hat. Sicher ist, dass er nicht vorhatte, heidnische Überlieferungen möglichst authentisch zu erhalten. Ihm ging es darum, die Kunst der Skaldik zu vermitteln, die damals angesagte Form höfischer Dichtung. Dafür nahm er alte Erzählungen über halb vergessene Götter (denen längst niemand mehr ernstlich huldigte) als Textmaterial und schmiedete daraus die uns erhaltenen altnordischen Verse. Entsprechend hochmittelalterlich geprägt ist das darin gespiegelte Gesellschaftsbild, wenn auch heidnische Vorstellungen früherer Zeiten mit eingeflossen sein dürften. Historisch zuverlässig bringt da aber niemand mehr die Milch aus der Melange. Viele – heute als „typisch germanisch“ geltende – Phänomene sind nur bei Snorri erwähnt oder auf seine Schriften zurückzuführen – und sonst nirgends belegbar. Dazu gehört zum Beispiel die Einteilung der Götter in „Asen“ und „Vanen“ oder die Beschreibung des Weltenbaums Yggdrasil mit seinen „neun Welten“. Ebenfalls finden sich etliche in der Edda erwähnte Gottheiten – wie zum Beispiel Heimdall – so gut wie nur dort. Die Inschrift einer englischen Spindel aus dem achten Jahrhundert nennt zwar (unter anderem) möglicherweise auch Heimdalls Namen, die Deutung bleibt jedoch spekulativ. Mit Sicherheit lässt sich daher nicht sagen, ob dieser Gott je wirklich von Angehörigen germanischer Kulturen verehrt wurde – auch wenn gerade die offensichtlichen Lücken in den literarischen Quellen dies wahrscheinlich machen (weil sie auf ältere Teile des Mythos schließen lassen, die verloren sind), beweisbar ist es bislang nicht. Etliche andere – von der Archäologie eindeutig als germanisch recherchierte – Gottheiten wiederum finden bei Snorri keine Erwähnung. Entsprechend unbekannt blieben Göttinnen wie Tamfana oder Baduhenna. Auch die uns überlieferten Sagas, ebenfalls altnordische Nacherzählungen, wurden erst in christlicher Zeit aufgeschrieben.
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