Sie waren in einer Straße angekommen, in der vier- und fünfstöckige Häuser standen, mit schmucklosen Fassaden aus der Nachkriegszeit. In einem der Gebäude stiegen sie in den vierten Stock. Lara läutete dreimal kurz, einmal lang. Die Tür öffnete sich, und ein Kollege, den er vom Sehen kannte, ließ sie hinein. Aus einem der Fenster der Dachwohnung konnte man den ganzen Hof und die Rückseite eines neuen Gebäudes überblicken.
„Das da unten ist ein Freudenhaus, das von einem Architekten geplant wurde. Perfekter Standort, gleich um die Ecke eine U-Bahn-Station. Bei der Einreichung des Plans wurde es als Sauna bewilligt, aber sofort nach der Fertigstellung wurde eine Umwidmung in ein Bordell beantragt. Alle Vorschriften wurden eingehalten, nichts kann dagegen unternommen werden. Nach außen hin verläuft alles ruhig, keine Schwierigkeiten. Aber du kannst dir vorstellen, dass die Anrainer dagegen protestieren. Wir sind aber nicht deshalb hier, sondern weil wir glauben, dass hinter den Eigentümern, einem Herrn Eisendle und einem Herrn Gruber, unser Syndikat steckt. Es könnten dieselben Leute sein, denen die Parksauna gehört, die übrigens trotz unserer Razzia floriert. Also wollen wir wissen, was hier vor sich geht. Zuerst haben wir eine Zeit lang den Haupteingang vorne überwacht, haben dann aber aufgehört, weil wir bemerkt wurden. Man hat sich über uns an höherer Stelle wegen Geschäftsstörung beschwert. Jetzt beobachten wir die Rückseite, was sicher auch effektiver ist, weil die wichtigen Leute mit ihren Autos im Hof parken und die Hintertür benützen. Diese Wohnung hier stand leer, und wir haben sie gemietet.“
In dem Geviert, das die Häuser bildeten, lagen Höfe und hübsche Gärten. Das Grundstück des Bordells war durch eine hohe Mauer von ihnen abgegrenzt. Lukas nahm ein beim Fenster liegendes Fernglas in die Hand und sah sich das Gebäude genauer an.
„Das Ganze ist videoüberwacht, und es gibt Bewegungsmelder. Es ist unmöglich, unbemerkt über die Mauer zu kommen.“
„Wissen wir, deshalb beobachten und fotografieren wir. Das Okay vom Staatsanwalt haben wir, aber wir müssen die Bilder nach der Auswertung sofort löschen. Nur verdächtige Personen dürfen gespeichert werden. Du fängst gleich jetzt an, der Kollege wird dir alles erklären. Am Abend wirst du abgelöst.“
Lara verabschiedete sich mit einem kurzen Gruß. Der Kollege erklärte ihm die Funktionen der Kamera, die fix auf einem Stativ montiert war, und zeigte ihm das Protokoll, das er führen musste. Als er ihn verließ, war er sichtlich erleichtert, der Dienst hier schien nicht beliebt zu sein.
Nun war er allein in der Wohnung. Er ging durch die leeren Räume, nur im Aufenthaltsraum standen zwei Sessel und eine durchgelegene Couch. In der Küche ein Kühlschrank, ein Tisch mit zwei Sesseln, auf der Spüle einige Gläser. Er trank ein Glas Wasser, nachdem er es längere Zeit rinnen hatte lassen. Dann setzte er sich zum Fenster und blickte auf das Objekt hinunter. Es war Vormittag, heiß, die Außentemperatur lag um die dreißig Grad, alles war ruhig. Lange Zeit geschah nichts, dann fuhr ein Wagen in den Hof, ein Mann stieg aus, drückte auf eine Klingel und betrat das Bordell. Fast hätte Lukas es versäumt, ein Foto zu machen, er erwischte ihn nur von hinten. Er blickte auf die Uhr, es war eins. Sein Magen rührte sich, in der Früh hatte er nur einen Kaffee getrunken. Durfte er sich eine Pizza bestellen? Er suchte gerade in seinem iPhone nach der Adresse einer Pizzeria, als es dreimal kurz und einmal lang klingelte. Er spähte durch das Guckloch. Es war seine Chefin, sie hatte eine Plastiktragetasche in der Hand.
„Du hast doch nicht geglaubt, dass ich meinen Liebhaber verhungern lasse. Der muss bei Kräften bleiben.“
Sie lächelte ihn an und packte aus, chinesisches Essen.
„Schau nicht so, es ist gut, von meinem Lieblingschinesen.“
Sie setzten sich an den Tisch und begannen, aus den Plastikschalen zu essen. Lara aß mit großem Appetit, er dagegen kaute an jedem Bissen herum.
„Du bist ein elender französischer Snob, das Essen ist wirklich nicht so schlecht, wie du tust. Das nächste Mal lasse ich dich verhungern.“
Lukas war kein Freund von Sojasauce, Glasnudeln und Frühlingsrollen, herausgebacken in altem Öl.
Sie standen auf und gingen zum Fenster.
„Von dort oben müsste man noch mehr sehen können, vielleicht sogar, was drinnen vorgeht“, meinte Lukas. Dabei zeigte er auf das Haus, das der Sauna am nächsten stand.
„Dort ist aber keine Wohnung frei.“
„Hättest du etwas dagegen, wenn ich einmal auf diesen Balkon dort klettere? Ich habe das Gefühl, dass in dieser Wohnung derzeit niemand wohnt.“
„Wie das letzte Mal, über die anderen Balkone?“
„Ja schon, es dürfte kein Problem sein.“
„Das muss ich mir erst überlegen, das wäre Hausfriedensbruch. Wir diskutieren das später einmal. Wie schaut es heute Abend aus? Du musst mir von Paris erzählen.“
„Ich freue mich darauf. Ich hatte schon den Eindruck, dass du das Interesse an mir verloren hast.“
„Treffen wir uns um sechs Uhr an der U-Bahn-Station vorne am Eck? Von unserem Verhältnis muss schließlich niemand etwas wissen.“
Lukas freute sich auf Lara, der Nachmittag wollte nicht vergehen. Er hatte wenig zu tun, fotografierte nur einige Männer und Frauen, die ein und aus gingen, vermutlich Personal. Erst gegen siebzehn Uhr kamen die ersten Besucher, parkten ihre Autos und betraten das Gebäude. Entspannung und Sex nach der Arbeit, hoffentlich bald auch für mich, dachte er sich. Dann läutete es an der Tür, die Ablöse war gekommen. Es war Peter Steiner, der Kollege mit der harten Handkante. Gemeinsam sahen sie sich die Fotos an. Bei den meisten nickte Steiner, er kannte einen Teil der Angestellten und löschte die Aufnahmen. Lukas war froh, endlich das Haus verlassen zu können, und ging zu U-Bahn-Haltestelle, wo ein ihm bekanntes Auto stand.
„Lukas, heute fahren wir zu mir. Du brauchst etwas Gutes zu essen, Irina hat für uns gekocht. Und es ist Zeit, dass du sie kennenlernst.“
Sie parkte vor einem Altbau in Neustift. Als sie eine Tür im zweiten Stock aufsperrte, kam ihnen eine junge blonde Schönheit entgegen. Lukas verschlug es fast den Atem. Er konnte seinen Blick nicht von ihr lösen.
„Hi, Mama! Und du bist Lukas, Mama hat mir schon von dir erzählt.“
Sie gab ihm die Hand, drehte sich um und ging in einen Raum, in dem er die Küche vermutete. Sie betraten ein großes Ess-Wohnzimmer, in dem für drei Personen gedeckt war. Diesmal war er der Neugierige und sah sich um: modernes Mobiliar, ein Maria-Theresien-Schrank, moderne Bilder von Malern, die er nicht kannte, und zwei Ikonen. Am Boden lagen ein großer weißer Wollteppich und zwei kaukasische Brücken, die Vorhänge waren bunt mit einem floralen Muster. Es war ein schöner und freundlicher Raum.
Lara ging hinaus, nachdem sie ihm ein Gläschen eiskalten Wodka eingeschenkt hatte. Er kostete den Wodka, der angenehm wie ein kühler Aperitif schmeckte.
Zu zweit kamen sie zurück, Suppenteller in den Händen.
„Dir bleibt heute nichts erspart, zu Mittag chinesisch und abends russisch. Das ist Borschtsch, eine Rote-Rüben-Suppe mit Tomaten, Paprika und Kohl, oben drauf ist Rahm.“
Die Suppe schmeckte vorzüglich, sie war gerade richtig scharf. Er trank ein Glas Wasser dazu, denn er spürte bereits den Wodka ankommen. Irina erzählte munter von der Universität und ihren Freundinnen. Er konnte gar nicht anders, er musste sie dauernd anschauen. Sie erinnerte ihn an jemanden, nicht an Lara, der sie aber zweifellos auch ähnlich war.
„Du bist Franzose? Ich habe an der Uni auch mit Französisch begonnen.“
„Ich bin nur ein halber Franzose, die zweite Hälfte ist wienerisch. Ich habe auch hier studiert.“
Das nächste Gericht waren Piroschki, mit Sauerkraut, Faschiertem und Kartoffeln gefüllte Germteigtaschen. Dazu trank man Wein aus dem Kamptal. Lara erklärte ihm, dass die russische Küche einfach und ländlich sei. Sie kenne keine aufwendigen oder raffinierten Rezepte. Es schmecke alles nach dem, was drinnen sei. Nur beim Einlegen von Gurken, Auberginen, von Fisch oder süß-sauren Aprikosen zeige man größeren Erfindungsreichtum. Lukas schmeckte es ausgezeichnet, es waren neue Eindrücke für seinen Geschmackssinn.
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