Das alles vergiftet nicht nur die internationalen Beziehungen, sondern erhöht dramatisch die Gefahr eines großen Krieges. Wir sollten nicht vergessen, dass die Weltwirtschaftskrise, die 1929 ihren Anfang in den USA nahm, nicht mit dem New Deal von Präsident Franklin D. Roosevelt, sondern durch den Zweiten Weltkrieg beendet wurde.
Unser Buch zeigt, wie in einer angespannten Sicherheitslage die Politik es vermochte, einen Konflikt zu entschärfen. Damals wie auch heute genügte ein Funke, das Pulverfass zur Explosion zu bringen. Vor sechzig Jahren gelang es, diesen Funken gemeinsam auszutreten, woran auch der junge US-Präsident John F. Kennedy insofern beteiligt war, als er Moskau zugestand, gemäß seiner Sicherheitsinteressen auf seinem Territorium, in seinem Einflussgebiet ungehindert zu agieren, sofern davon nicht die Interessen der USA betroffen sein würden.
Die Sicherheitspolitik und das Sicherheitsverständnis Moskaus haben sich seither nicht geändert. Die der Vereinigten Staaten von Amerika hingegen schon.
An der vorliegenden Dokumentation hat Heinz Keßler mitgewirkt. Der Armeegeneral war als Verteidigungsminister der DDR mein Chef, mein Genosse und auch mein Freund. Gemeinsam haben wir im Sommer 2011 dieses Buch in Berlin vorgestellt. Das Echo war, wie erwartet, geteilt. »Zwei Betonköpfe« (Neue Zürcher Zeitung, 28. Juli 2011) hätten einen »verbalen Schmutzwall zwischen zwei Buchdeckel« errichtet (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Mai 2011) und angeblich die »Schüsse auf Flüchtlinge beschönigt« (Die Welt, 12. Mai 2011). »Selbstzweifel oder gar Selbstkritik« (Der Tagesspiegel, 11. August 2011) seien »den alten Genossen« unbekannt, befand der Journalist.
Dem Hohn, der Ignoranz, der ideologischen Verblendung und der persönlichen Schmähung standen weitaus mehr anerkennende Bekundungen entgegen, die bis heute andauern. Sie fanden ihren Ausdruck auch in der großen Zahl jener, die Heinz das letzte Geleit gaben. Er verstarb am 2. Mai 2017 im Alter von 97 Jahren. So erinnert denn diese Neuauflage nicht nur an ein wichtiges Ereignis der europäischen Nachkriegsgeschichte, sondern auch an einen Soldaten, der wenige Tage nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion aus der Wehrmacht desertierte und zur Roten Armee überlief. »In der DDR wurde mein Vater Offizier, weil er den Krieg hasste«, sagte sein Sohn in der Trauerrede. Heinz Keßler sorgte mit dafür, dass die Nationale Volksarmee die einzige deutsche Armee ist, die nie in einen Krieg zog.
Das alles sollte man im Hinterkopf haben, wenn man dieses Buch liest und die Geschichtsverdrehungen zur Kenntnis nehmen muss, die um den 13. August 2021 ganz gewiss in den deutschen Medien verbreitet werden. »Jede Kriegführung gründet auf Täuschung«, soll schon vor zweieinhalbtausend Jahren der chinesische Militärstratege Sunzi formuliert haben. Das gilt auch für den Informations- und Propagandakrieg, in dem wir uns gegenwärtig befinden.
Fritz Streletz,
Strausberg, im Frühjahr 2021
50 Jahre danach
Quer durch die Mitte Berlins zieht sich ein Band von Pflastersteinen, gelegentlich unterbrochen vom in Metall gegossenen Hinweis, dass sich hier bis 1989 »die Mauer« befunden hätte. Und alljährlich am 13. August formieren sich die Stadtoberen, Vertreter von Parteien und sogenannter Opferverbände in der Bernauer Straße zu einer Trauergemeinde. Die Nachrichtenagenturen vermelden wie etwa dpa an jenem Tag 2010: »Mit Kränzen, Kerzen und Schweigeminuten erinnert Berlin heute an den Mauerbau vor 49 Jahren. An der Gedenkstätte in der Bernauer Straße legt Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit einen Kranz für die Opfer des DDR-Grenzregimes nieder.« Zuvor hatte man »bei einer Andacht auf dem früheren Todesstreifen Kerzen entzündet«.
Solche Bilder gehen um die Welt und ans Gemüt. Wo »Trauer« herrscht, hat die Vernunft zu schweigen. Und alle, die den Finger heben und sich kritisch äußern, gelten augenblicklich als Zyniker. Sie würden »die Opfer« verhöhnen.
Zynisch hingegen sind tatsächlich jene, die einer falschen, einer ahistorischen Darstellung das Wort reden und ihr in solchen Aufmärschen und Erklärungen symbolhaft Gestalt geben. Man könnte es besser wissen, wenn man es denn wissen wollte. Aber die Lesart ist vorgegeben und wird seit einem halben Jahrhundert ins öffentliche Bewusstsein getrommelt: Ulbricht, der Lügner, hat die Mauer gebaut und damit das Land gespalten.
Und zum Beweis sendet man in Endlosschleifen jene Sequenz, wo eben jener Geschmähte erklärt, niemand habe die Absicht, eine Mauer zu errichten. Ohne natürlich, was die journalistische Sorgfaltspflicht verlangte, die Erklärung hinzuzusetzen, dass der DDR-Staatsratsvorsitzende dies am 15. Juni 1961 und auf einer internationalen Pressekonferenz in Berlin nach dem Gipfeltreffen von Chruschtschow und Kennedy in Wien gesagt hatte. Und zwar auf die Frage der Korrespondentin der Frankfurter Rundschau Annamarie Doherr: »Bedeutet die Bildung einer Freien Stadt Ihrer Meinung nach, dass die Staatsgrenze am Brandenburger Tor errichtet wird? Und sind Sie entschlossen, dieser Tatsache mit allen Konsequenzen Rechnung zu tragen?«
Und Ulbricht reagierte darauf in der bekannten Weise: »Ich verstehe Ihre Frage so, dass es in Westdeutschland Menschen gibt, die wünschen, dass wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR dazu mobilisieren, eine Mauer aufzurichten. Mir ist nicht bekannt, dass eine solche Absicht besteht. Die Bauarbeiter unserer Hauptstadt beschäftigen sich hauptsächlich mit Wohnungsbau, und ihre Arbeitskraft wird dafür voll eingesetzt. Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!«
Das genügt als Beweis für die Behauptung, dass erstens Ulbricht log, schließlich errichteten zwei Monate später die Berliner Bauarbeiter eben jene »Mauer«, und dass er zweitens dafür Order erteilt haben musste, denn schließlich hatte Ulbricht selbst diesen Begriff eingeführt: Mauer.
Die tatsächliche Lüge ist die inzwischen offizielle Lesart, Walter Ulbricht sei sowohl Erfinder als auch Bauherr »der Mauer«. Die Wahrheit hingegen ist: Ulbricht hatte in Moskau wirksame Maßnahmen zur Friedenssicherung und gegen den Exodus der DDR durch die hohe Anzahl der Wirtschaftsflüchtlinge gefordert, nicht aber das, was zwischen dem 13. August 1961 und dem 9. November 1989 an der Grenze geschah.
Wer was wo und warum entschied, werden wir auf den nachfolgenden Seiten dokumentieren. Als Militärs richten wir naturgemäß unser Augenmerk auf militärpolitische Aspekte, auf militärstrategische Fragen zwischen den beiden damals bestehenden Bündnissen, also zwischen Warschauer Vertrag und Nordatlantikpakt. Diese standen, was zu beweisen ist, im Zentrum aller Überlegungen in Moskau und in Washington. Alle anderen Aspekte, die seither in der politischen und propagandistischen Auseinandersetzung um den 13. August und die Grenzsicherungsmaßnahmen in den Vordergrund gedrängt und behandelt werden, die »menschliche Seite« und die damit verbundenen Emotionen, spielten damals eine nachrangige Rolle. Westliche Militärs würden das Kollateralschaden nennen.
Um nicht missverstanden zu werden: Die Führung der DDR, wir beide eingeschlossen, hat jeden einzelnen Todesfall an der Staatsgrenze bedauert. Kein einziger war gewollt. Und nicht nur, weil dadurch der Sozialismus Schaden nahm. Der Sozialismus war von seinem Anspruch her humanistisch, der Klassenauftrag der NVA und der Grenztruppen lautete, den Frieden zu sichern und zu bewahren, nicht in den Krieg zu ziehen. Weder gegen Völker noch gegen einzelne Gesetzes- und Grenzverletzer. Wir hätten uns auch andere Regelungen an der Staatsgrenze vorstellen können.
Aber die DDR war in militärischer Hinsicht nicht souverän, wie dies weltweit kein Staat und keine Armee ist, die einem Bündnis angehört. Darauf werden wir auch noch zu sprechen kommen. Und zum Zweiten handelte es sich bei jener Demarkationslinie nicht um eine einfache Staatsgrenze, schon gar nicht wie es fälschlich und beschönigend heißt um eine »innerdeutsche Grenze«. Es war die Frontlinie zwischen den stärksten Militärpakten jener Zeit. Das war (und ist) weder vergleichbar mit dem 17. Breitengrad auf der koreanischen Halbinsel noch mit der befestigten Grenze zwischen den USA und Mexiko, mit der Grünen Linie zwischen Nord- und Südzypern (dem eigentlichen Zypern) oder zwischen Israel und Palästina.
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