Auch der utopische Entwurf Christianopolis wurde im Umfeld der Rosenkreuzer 1619 von Andreae verfasst. Darin beschreibt er einen idealen Staat, der in einem engen Zusammenhang mit der Nova atlantis (1627) des Francis Bacon und der Civitas solis (1623) von Thomas Campanella zu sehen ist. In der Christianopolis thematisiert Andreae nicht nur das Problem der Bildung einer Elitegesellschaft, sondern entwirft auch eine Gegenwelt. Sie gilt als Paradigma einer Reformationsutopie.
Stellten Sozialstruktur und Wirtschaftsleben der Christianopolis den Idealtyp einer frühneuzeitlichen Stadt dar, so zeigte ihr kulturelles Leben ein frühbürgerliches Bildungsideal, das sich allen modernen Wissenschaften verpflichtet wusste. Zwar hielt Andreae noch am theologisch-kosmologischen Selbstverständnis fest, doch sein Wissenschaftsideal überwand die scholastische und kirchliche Tradition. Als Bischof von Calw versuchte er später, ein organisiertes Sozialwesen auf der Basis eines christlichen Sozialismus zu errichten. Am Ende seines Lebens hat er in der Schrift Theophilus die Idee Christianopolis und seine übrigen Reformprogramme nochmals zusammengefasst.
Dass Andreaes Christianopolis Bacons heute berühmtere Utopie Nova atlantis beeinflusste, ist unumstritten. In Bacons Entwurf kommt dem »Haus Salomonis«, der intellektuellen Führungsspitze in dieser Utopie, eine zentrale Rolle zu, mit gewissen Parallelen zu den späteren Freimaurerlogen. Die weisen Männer im Haus Salomonis sind weitgehend identisch mit den Rosenkreuzern. Bis ca. 1630 kam eine Fülle von Schriften für und gegen das Rosenkreuzertum heraus, die den Rosenkreuzermythos verbreiteten. Wirkungsgeschichtlich entscheidend wurde aber Johann Amos Comenius, der Andreae als geistigen Vater verehrte. Er erfand ein pansophisches System universellen Wissens, in dem die Weltreformation auf pragmatische Weise verwirklicht werden sollte.
Im Mittelpunkt dieses Vorhabens stand die Pädagogik, mit deren Hilfe die Menschen in Wissen, Sprache und Religion vereinigt werden sollten. Comenius forderte in diesem Zusammenhang ein universelles Kollegium. Er entwickelte auch Pläne zu einer Weltverbesserung und brachte sie nach England, womit er eine unmittelbare Verbindung zwischen den Rosenkreuzern und der englischen Freimaurerei herstellte. Genau wie Andreae wollte er auch über alle trennenden Schranken hinweg einen großen »Menschheitsdom« errichten, in dem Menschen aller Völker, Nationen, Sprachen und Religionen zusammentreffen sollten.
Comenius wurde nicht umsonst auf Betreiben von Freimaurern vom englischen Parlament eingeladen, einen Entwurf für eine humanitäre Gelehrtengesellschaft zu verfassen. In seiner Schrift Via lucis (1641) schlägt er ein »Collegium universale« mit Sitz in England vor, das alle Bünde und Bruderschaften der Zeit mit dem Ziel einer Weltreformation vereinigen sollte. In der Satzung waren die Abgeschlossenheit des Bundes und die Verpflichtung seiner Mitglieder zur strikten Verschwiegenheit vorgesehen. Diese Initiative blieb nicht ohne Wirkung, da aus dem »unsichtbaren Collegium« 1660 die erste moderne wissenschaftliche Gesellschaft, die heute noch existierende Royal Society, hervorging, deren Mitglieder damals in enger Beziehung zum Rosenkreuzertum und zur Freimaurerei standen.
Zwischen der älteren Rosenkreuzerbewegung und der im 18. Jahrhundert entstandenen »Bruderschaft der Gold- und Rosenkreuzer« bestand personell kein direkter Zusammenhang, wohl aber in ideeller Hinsicht. Der erste Hinweis auf die Gold- und Rosenkreuzer ist eine Schrift von Sincerus Renatus (Samuel Richter) aus dem Jahre 1710: Die wahrhaffte und vollkommene Beschreibung des philosophischen Steins der Bruderschaft aus dem Orden des Gülden- und Rosenkreutzes denen Filiis Doctrinae zum Besten publiciret von S. R. [d. i. Sincerus Renatus] . Die Verbindung von Rose und Kreuz mit dem Gold stand für die Zweiteilung des rosenkreuzerischen Geheimwissens in Theologie und Philosophie. Im »Stein der Weisen« werden Theologie und Philosophie zu einer Einheit zusammengeführt. In einem französischen Ritual einer Rosenkreuzer-Bruderschaft heißt es u. a., dass der philosophische Weg zum Naturgeheimnis und zu zeitlichem Glück führen solle, der theosophische Weg aber in das höchste Geheimnis der Göttlichkeit. Dank der Schrift ist belegt, dass sich Anfang des 18. Jahrhunderts eine Bruderschaft der Gold- und Rosenkreuzer neu gegründet hat.
Die älteste Quelle über die Gold- und Rosenkreuzerbruderschaft Aureum Vellus seu Iunioratus Fratum Roseae Crucis von einem Mitglied der »Prager Assemblée« stammt aus dem Jahre 1761. Sie enthält Statuten sowie ein Ritual und wurde zum Teil wörtlich aus der 1749 in Leipzig erschienenen Schrift von Johann Heinrich Schmidt (alias Hermann Fictuld) abgeschrieben. Zweimal wird darin eine »Societät der Goldenen Rosenkreutzer« erwähnt. Vor 1767 bestand die Bruderschaft aus einem Kaiser und einem Vizekaiser, die aber nach der Ordensreform nicht mehr erwähnt werden, und aus sieben Klassen, die sich aus 77 Magi, 700 Majoratsmitgliedern, 1000 Adepti exempti, 1000 Jüngern sowie aus den zuletzt aufgenommenen Personen zusammensetzten. Spätere Organisationsformen waren bereits in ihrer Grundstruktur angelegt. Laut den Statuten war die Aufnahme von Deisten und »Heiden« verboten, während Juden in Ausnahmefällen beitreten durften. Dies stieß aber später auf strikte Ablehnung.
Der Orden wurde 1764 durch die Aufhebung des Prager Zirkels öffentlich bekannt. In diesem Kreis war bereits eine enge Verbindung zwischen den Rosenkreuzern und der Freimaurerei entstanden, was auch aus der Bezeichnung »Loge zur schwarzen Rose« und aus der Möglichkeit einer Doppelmitgliedschaft hervorgeht. Die Integration der Rosenkreuzer in die Freimaurerei wurde vor allem durch das Hochgradsystem begünstigt, das den aufgeklärten Zielen der Maurerei widersprach. Die Rosenkreuzer gaben sich innerhalb dieses Systems als die höchste Stufe der Freimaurerei aus. So wurde z. B. in dem 1777 erlassenen zweiten Hauptplan betont, zur besseren Verbergung der oberen Klassen seien drei unterste Klassen der Freimaurerei als Pflanzschule zu höheren Wissenschaften errichtet worden. Die Mitgliedschaft in der Freimaurerei wurde zur Voraussetzung für die Aufnahme in die Rosenkreuzer-Bruderschaft.
Das Herrschaftssystem des Ordens wurde durch eine Hierarchie des Wissens ideell gefestigt. Dieses System gliederte sich in neun Grade, die dem jeweiligen Stand in der rosenkreuzerischen Ausbildung und der praktischen sowie theoretischen Kenntnis der Lehre der Rosenkreuzer entsprachen. 1777 zählte der Orden bereits 5856 Mitglieder, die sich nun auf neun Grade verteilten: 7 Magi, 77 Magistri, 777 Adepti exempti, 788 Majores, 799 Minores, 822 Philosophi, 833 Practici, 841 Theoretici, 909 Juniores. Die Mitglieder der Bruderschaft waren Naturforscher, Ärzte, höhere Offiziere, Theologen und Abenteurer, stammten also vorwiegend aus höheren bürgerlichen oder adeligen Schichten.
Der Baum der Pansophie, Abbildung aus dem Speculum Sophicum Rhodostauroticum (1618) von Theophilus Schweighardt Constantiens
Die Ziele des Ordens waren religiöser Natur. Im Zentrum stand eine pansophische Emanationslehre, wonach die Natur ein »Ausfluss der Schöpferkraft Gottes und somit selbst ein Stück Gottheit sei«. Im Zuge der Entstehung politischer Richtungen in der Aufklärungszeit politisierte sich auch der Orden stark. Dabei standen eine ausgeprägte Personalpolitik und die Bildung einer sozial integrierenden älteren Gruppe im Vordergrund. Das Beispiel Johann Christoph von Wöllners (1732–1800) zeigt allerdings, dass die Rosenkreuzer auch nach der Politisierung des Ordenszweckes religiös orientiert blieben. Die Auseinandersetzung mit der Aufklärung, die die rosenkreuzerische Politik prägte, war ein ausgeprägter Kampf gegen Irreligiosität, Deismus und Naturalismus. Politisches Gewicht gewann der Orden vor allem in Preußen und mit Abstrichen auch in Bayern.
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