1 ...6 7 8 10 11 12 ...29 Weil dieses Konstrukt so vieldimensional ist, ist es vielleicht nicht möglich, zu einer handlichen, praktisch anwendbaren Definition von Weisheit zu gelangen. Stattdessen müssen wir uns wohl mit einer Definition zufrieden geben, die ihre Essenz erfasst, auch wenn sie nicht leicht im Experiment zu überprüfen ist. Im Zusammenhang mit Psychotherapie könnte man Weisheit einfach als tiefes Wissen davon verstehen, wie man lebt . Was dies praktisch bedeutet, ist aber nicht so einfach zu beschreiben.
Besonders schwer zu definierende Konstrukte sind dadurch gekennzeichnet, dass es konkurrierende Methoden gibt, zu ihrer Definition zu gelangen (Staudinger & Glück, 2011). Einige Psychologen sind um die Welt gereist und haben gewöhnliche Menschen aufgefordert, „weise“ Menschen zu beschreiben. In ihren Antworten haben sie nach Mustern gesucht, um implizite Modelle von Weisheit zu erkennen (zum Beispiel Bluck & Glück, 2005). Andere Forscher haben die philosophischen und religiösen Schriften der Welt nach wiederkehrenden Aspekten von Weisheit durchforstet (z. B. Birren & Svensson, 2005; Osbeck & Robinson, 2005). Wieder andere haben versucht, durch Nachdenken über ihre eigene Erfahrung von Weisheit weiterzukommen, was zu einer Vielfalt expliziter Theorien geführt hat – zu „Konstruktionen von (angeblichen) Experten als Theoretiker und Forscher“ (Sternberg, 1998, S. 349). Zu einem Konsens ist man aber nicht gelangt. Die zwei psychologischen Haupttexte über Weisheit, die von Robert Sternberg herausgegeben wurden (Sternberg, 1990a; Sternberg & Jordan, 2005), enthalten so viele Definitionen von Weisheit wie Kapitel. Glücklicherweise jedoch beginnen diese Versuche, Weisheit zu definieren, ihr Wesen wirklich zu erhellen. Indem wir ihre vielen Bestandteile benennen und beschreiben, bekommen wir Hinweise darauf, wie wir vielleicht Weisheit kultivieren und in der Psychotherapie verwenden könnten. Aber wie Sie bald sehen werden, hat sich die Aufmerksamkeit der Therapeuten weniger auf Weisheit als auf Mitgefühl gerichtet.
Ein Top-down-prozess
Moderne Neurowissenschaftler unterscheiden zwischen Bottom-up- und Top-down-Prozessen. Erstere beschreiben, wie das Gehirn sensorische Basisinformationen aufnimmt, zu Wahrnehmungen organisiert und aus diesen Grundbausteinen Erfahrungen der Realität konstruiert – wie zum Beispiel, wenn man den Duft einer Rose genießt. Zu Top-down-Prozessen gehört, dass man die Daten, die ständig von unseren Sinnessystemen in unser Gehirn strömen, interpretiert und auf sie reagiert und dabei höhere kortikale Fähigkeiten wie Rationalität, Urteilsvermögen und konzeptuelle Rahmenwerke benutzt, die auf vergangener Erfahrung beruhen. Nachdenken, bevor man handelt, und Treffen ausgewogener Entscheidungen, wie wir das vielleicht tun, wenn wir mit einem Patienten über ein sensibles Thema sprechen, sind Top-down-Prozesse. Weisheit könnte deshalb der höchste mögliche Top-down-Prozess sein. Dieser Prozess hat viele Bestandteile, zu denen Abwägen, emotionale Regulierung und die Betrachtung aus einem gewissen Abstand gehören. Wie viele andere Top-down-Prozesse ist Weisheit integrativ – Kommunikation zwischen Körper, Kopf und Herz gehört zu ihr. Obwohl Theoretiker, was ihre Einzelheiten angeht, verschiedener Meinung sind, stimmen fast alle darin überein, dass Weisheit das Gegenteil von impulsivem Handeln aus Instinkt, Gewohnheit oder ungezügelter Leidenschaft ist (Sternberg, 2005a; siehe auch Kapitel 11).
Ein Grund, weshalb Weisheit bis vor Kurzem sowohl vonseiten der akademischen Psychologie wie auch von der Psychotherapie so wenig Beachtung gefunden hat, besteht darin, dass sie so ein komplexer Top-down-Prozess ist. Seit ihren Anfängen in den späten Jahren des 19. Jahrhunderts hat sich die akademische Psychologie mehr den elementaren psychischen Prozessen zugewendet wie der Wahrnehmung oder der Konditionierung von Verhalten – Phänomene, die leicht operational definiert werden konnten und mit denen man leicht experimentieren konnte (Birren & Svensson, 2005). Psychotherapeuten sind vielleicht auch deshalb davor zurückgeschreckt, Weisheit zu untersuchen, weil sie der Auffassung waren, dass sie mit mehr Recht als Bereich der Philosophie und der Religion zu sehen ist. Auch moderne Philosophen haben sie ignoriert, zwar festgestellt, dass sie von historischem Interesse ist, aber sich nicht tiefer mit einem Konstrukt befassen wollen, das so vieldimensional ist (Smith, 1998). Aber bei den tiefsten Denkern der Welt war dies nicht immer der Fall.
Eine kurze Geschichte der Weisheit
im Westen und im Osten
Einige der frühesten existierenden Weisheitsschriften finden sich auf Fragmenten von Tontafeln in Mesopotamien, die 5000 Jahre alt sind. Hier begegnet man so weisem Rat wie: „Wenn wir zu sterben verurteilt sind – lasst uns ausgeben, was wir haben“ und: „Derjenige, der viel Silber besitzt, mag glücklich sein; der viel Gerste besitzt, mag glücklich sein; aber derjenige, der überhaupt nichts besitzt, kann ruhig schlafen“ (Hooker & Hooker, 2004), neben Ermahnungen zu „gutem“ und „effektivem“ Verhalten (Baltes, 2004, S. 45). Altägyptische Weisheitsschriften von 2000 v. Chr. nehmen viele spätere Auffassungen von Weisheit vorweg, zum Beispiel, dass es nicht ratsam ist, sich selbst für weise zu halten: „Sei nicht aufgeblasen mit deinem Wissen, und sei nicht stolz, weil du weise bist“ (Readers Digest Association, 1973).
Doch es waren die griechischen Philosophen der Antike, „Liebhaber der Weisheit“, die den intellektuellen Rahmen für diese Qualität schufen, die das westliche Denken in den folgenden Jahrhunderten beherrschte. Von Sokrates (470–395 v. Chr.) bis Platon (428–322 v. Chr.) und Aristoteles (384–322 v. Chr.) entwickelte sich die Idee der Weisheit, sophia, und wurde schließlich von Wissen, Handwerkskunst und anderen Fähigkeiten unterschieden. Sokrates beschrieb „die enge Intelligenz, die aus dem kühnen Auge eines gerissenen Verbrechers blitzt“, als etwas anderes als Weisheit und betonte wiederholt, wie wichtig es sei, die eigenen Grenzen zu kennen (Osbeck & Robinson, 2005, S. 65). Sein Schüler Platon lehrte, dass die Kultivierung von Weisheit eine „tägliche Disziplin“ ist, die wir „mit allem Ernst“ auf uns nehmen sollten, indem wir „Vernunft“ entwickeln, um unseren Geist und unsere Begierden zu kontrollieren. Aristoteles verwendet den Begriff der „goldenen Mitte“ – ein Bild für die Ausgewogenheit der Art und Weise, wie wir verschiedene Aspekte unseres Charakters ausdrücken (Center for Ethical Deliberation, 2011). Alle diese alten Themen sind in moderne Definitionen von Weisheit eingegangen.
In späteren hebräischen und christlichen Texten wurde Weisheit zur Enthüllung von Wahrheit durch Gott (Birren & Svensson, 2005). Treue im Glauben war der Weg zur Weisheit. Wie man in Hiobs Ringen im Alten Testament erkennen kann, gehörte zu Weisheit, dass man seinen Platz in der Welt kennt, dass man akzeptiert, dass Vieles unser Verstehen übersteigt und dass man Gott treu bleibt (von Rad, 1972). Für Augustinus (354–430 n. Chr.) wurde Weisheit zu moralischer Perfektion ohne Sünde (Birren & Svensson, 2005). Es ist nicht überraschend, dass diese eher theologischen Vorstellungen von modernen Psychologen, die Weisheit untersuchten, nicht übernommen wurden.
Große Denker im Westen haben Weisheit als ein Zusammenwirken kognitiver Fähigkeiten verstanden, wobei bei der Beschreibung die Vernunft (Frances Bacon, 1596–1626; Descartes 1596–1650; Plato), das Wissen von Gott (Locke, 1632–1704) oder gerechtes Handeln (Kant, 1724– 1804; Montaigne, 1533–1592) (Birren & Svensson, 2005) besonders betont wurde. Zu diesem Zusammenwirken gehörte sowohl der Erwerb von Wissen wie auch die Entwicklung der Fähigkeit, sie in der Welt effektiv zu nutzen.
Östliche Weisheitstraditionen sind anders orientiert. Sie betonen die transformative Kraft von Weisheit, die darin besteht, dass sie sich positiv auf unsere kognitiven, intuitiven, affektiven und zwischenmenschlichen Erfahrungen auswirkt (Takahashi & Overton, 2005). Die frühesten schriftlichen Fassungen asiatischer Weisheitslehren sind die Upanishaden, die zwischen 800 und 500 v. Chr. (Durant, 1956) aufgezeichnet wurden. Hier beschreiben die gesammelten Geschichten von Heiligen und Weisen Weisheit, die sich nicht nur von faktischem Wissen unterschied, sondern auch transzendente spirituelle Erfahrungen enthielt, die über die der vertrauten sinnlichen Welt hinausgehen. Etwa um 600 v. Chr. tauchte die vielgestaltige Sammlung von Lehren, die man unter dem Begriff Taoismus zusammenfasst, in China auf. In dieser Tradition werden Intuition, Mitgefühl und vor allem ein ausgewogenes Leben in Harmonie mit den Gesetzen der Natur als die Essenz von Weisheit gesehen. Logisches Denken, Vernunft und Sitten gelten danach als verdächtig – weil sie zu leicht von engem Eigeninteresse beeinflusst werden und man von dem Ganzen der Natur entfremdet werden kann (Birren & Svensson, 2005). Bald darauf, ebenfalls in China, lehrte Konfuzius (551–479 v. Chr.), dass eine moralische Lebensführung und Erhalten der sozialen Ordnung Kennzeichen von Weisheit seien (Baltes, 2004; Birren & Svensson, 2005).
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