Blick zurück zu den bereits bewältigten Klippen.
Der Aufstieg ist unglaublich steil; ich vermute insgeheim 90 Grad, vielleicht auch mit Überhang, und mein Rucksack und ich quälen uns Schritt für Schritt hinauf. Oben angekommen, fegt mich der Wind beinahe wieder hinunter, aber zum Glück habe ich dem einiges an Gewicht entgegenzusetzen. Langsam und sicherheitshalber immer ein wenig nach links geneigt umrunden wir die Klippe. Die Aussicht ist wirklich spektakulär. Das hat sich auch unser deutsches Pärchen gedacht und sitzt gemütlich beim Mittagessen, die Schuhe fein säuberlich neben sich gestellt. Nun ist es ja eine der ersten Wanderregeln, dass man beim Wandern nie die Schuhe ausziehen soll, aber wer bin ich, dass ich mich dazu äußere? Wir nicken kurz und düsen vorbei. Es geht ein wenig landeinwärts und dann durch die schöne Heidelandschaft von Holdstone Down. Der Holdstone Hill ist vor allem bei UFO-Anhängern sehr beliebt. Auf diesem „Heiligen Berg“ finden regelmäßig Treffen statt, denn schließlich ist hier Jesus höchstpersönlich einmal in einem Raumschiff gelandet – zumindest, wenn man der Aetherius-Gesellschaft Glauben schenken mag. Diese Gesellschaft wurde 1955 genau hier in England gegründet und zählt zu den Neuen Religiösen Bewegungen mit einer Zuordnung zum Ufoglauben. Wir sehen allerdings weder Jesus noch ein Ufo, das uns zur nächsten Stadt bringen könnte, dafür aber einen jungen Mann in gefakter Militärkleidung, der noch langsamer unterwegs ist als wir. Ich spreche ihn an und frage, ob alles in Ordnung ist. Ist es nicht. Er hätte üble Schmerzen in den Füßen und könne nicht glauben, wie anstrengend dieser Abschnitt des SWCP ist. Letztes Jahr sei er vom Midway Point nach South Haven gewandert und hatte die vier Wochen nicht einmal annähernd solche Schmerzen wie dieses Mal am dritten Tag. Er schreibt das dem unmenschlich harten Boden zu und träumt sich schon nach Combe Martin. Wir gehen ein Stück des Weges gemeinsam, dann entschließt er sich doch zu einer Pause, notfalls würde er sein Zelt hier aufschlagen, wenn es gar nicht anders gehe. Wir vergewissern uns noch einmal, dass wir bestimmt nicht helfen können und wandern dann weiter.
Es ist schon später Nachmittag und die größte Herausforderung liegt noch vor uns – der „Great Hangman“, die höchste Erhebung des gesamten Weges. Bevor wir allerdings mit dem mühsamen Aufstieg beginnen können, müssen wir zuerst natürlich mal wieder ins Tal hinunter, dieses Mal nach Sherrycombe. Der Abstieg ist extrem steil und feucht, was ihn auch noch rutschig macht. Genauso steil geht es auf der nächsten Seite auch wieder bergauf. Es sind zwar nur 318 Meter hinauf, aber die haben es in sich. Eigentlich sind nur die ersten 200 Meter schlimm, danach geht es eher gleichmäßig bis zum wenig spektakulären Gipfelkreuz. Davor sitzt ein Australier, der mal wieder auf seine Frauen wartet: Wir beobachten das schon den ganzen Tag. Er läuft eine nicht unwesentliche Strecke vor und wartet dann immer, bis zwei Frauen nachkommen. Jetzt blockiert er das beste Foto und macht auch keine Anstalten, sich fortzubewegen, als wir den Fotoapparat auspacken. Auch gut, dann gehen wir gleich weiter zum Little Hangman, der gemeinsam mit dieser Erhebung die „Hangman Hills“ bildet. Die Klippe des Great Hangman ist mit ihren 244 Metern übrigens die höchste Klippe Englands. Darunter können wir also auch ein Häkchen setzen.
Der Weg in die Stadt zieht sich ein wenig und wem begegnen wir auf den letzten Metern? Unserem unfreundlichen älteren Pärchen von gestern, das mal wieder grußlos an uns vorüberzischt. Es sollten die einzig unfreundlichen Wanderer bleiben, die uns während unserer Zeit hier begegneten.
Der kleine Badeort Combe Martin, in dem wir heute übernachten, hat nicht wirklich viel zu bieten und besteht aus höchstens drei kleinen und einer ewig langen Straße. Auch gut, zumindest können wir uns nicht verlaufen. Für Royalisten ist der Ort vor allem deshalb interessant, weil aus dem Silber, das hier abgebaut wurde, Teile der Kronjuwelen entstanden. Außerdem hält Combe Martin den Weltrekord für die längste Straßenparty. Ich kann mir gut vorstellen, wie diese Party das kleine, ruhige Fischerdorf in Aufruhr versetzt haben muss. Heute allerdings ist hier tote Hose und nach dem obligatorischen Supermarkteinkauf gehen wir in unser Hotel, das natürlich wieder den Hügel hinauf liegt. Es hätte sogar einen Pool, doch wir sind zu müde, um jetzt auch noch schwimmen zu gehen. Außerdem haben sich in der letzten Stunde die Wolken ziemlich verdichtet, da zieht mich nichts ins Wasser. Dann lieber E-Mails beantworten, Fotos hochladen und ein wenig fernsehen. Obwohl es ein langer Tag mit über 1.000 Höhenmetern war, haben wir ihn gut gemeistert und können uns auf die Schulter klopfen. Vielleicht verleihen meine blauen Wunderpillen ja sogar kleine Flügel.
So nah am Meer wie möglich.
„Everywhere is walking distance, when you have the time.“
Steven Wright, Comedian
Tag 4
Strecke: Combe Martin nach Woolacombe
20,3 km – 1.011 hm – 2,32 km/h
am Pfad: 76,8 km
Unterkunft: Marine House, £ 90,– wunderschön
unfassbar heiß
Mittlerweile haben wir schon so etwas wie ein Morgenritual entwickelt, das im Wesentlichen aus duschen, packen, frühstücken, einkaufen und losgehen besteht. Doch zwischen dem Aufwachen und dem Frühstücken liegt meist recht viel Zeit, denn das Leben in England beginnt deutlich später als bei uns zu Hause. Heute allerdings dürfen wir uns bereits um 8.30 Uhr den kulinarischen Genüssen hingeben. Mittlerweile verzichtet auch Peter schon auf das „Full English Breakfast“, da es sich mit vollem Bauch wirklich sehr schlecht wandern lässt.
Die erste Station danach ist der Supermarkt, der auch in Combe Martin nicht größer als eine Greißlerei ist. Allerdings gibt es sie hier wenigstens noch, bei uns zu Hause sucht man diese meist vergeblich. Als ich noch ein Kind war, gab es in jedem Dorf einen Greißler, doch mittlerweile sind sie fast ausnahmslos verschwunden und selbst den lokalen Geschäf- ten in den Städten droht durch Internetshopping und Großkonzernen das gleiche Schicksal. Nach uns bezahlt ein Paar, deren Sprache wir nicht richtig zuordnen können. Deutsch scheint es irgendwie nicht zu sein, doch während ich eher auf Niederländisch tippe, glaubt mein Mann, das typische Schwitzerdütsch herauszuhören. Die Verkäuferin versucht ge- rade mühevoll, ihnen die einzelnen Wertestufen der britischen Münzen zu erklären. Dieses Problem kennen wir nur zu gut; auch wir drehen jede Münze zwei- bis dreimal um, bevor wir eine Ahnung haben, welche es möglicherweise sein könnte. Dies wird sich auch bis zum Ende unserer Reise nicht wesentlich bessern, das kann ich an der Stelle schon verraten.
Rastbänke sind nur dann da, wenn wir sie nicht brauchen.
Wir starten auf der Straße und steigen viele Stufen hinab, nur um diese hundert Meter später hinaufzugehen, um auf die gleiche Straße zu kommen. Für mich fällt das in die Kategorie „unnötige Anstrengung“. Der Path rühmt sich damit, so nah wie möglich am Meer entlang zu gehen, und durch diese Wegführung brachte er uns tatsächlich dem Meer zwei Meter näher. Wieder oben auf der Straße wartet verlockend eine kleine Bushütte auf uns. Spaßeshalber sage ich zu meinem Mann: „We could take the bus“, und wir kommen so mit einem älteren Pärchen, das hier tatsächlich auf den Bus wartet, ins Gespräch. Viel Zeit zum Plaudern gibt es leider nicht, denn wir müssen weiter. Der nächste Abschnitt ist nicht wirklich spektakulär: Wir wandern über Campingplätze, durch Stauden und auf kurzen, steinigen Stränden, haben aber immer einen großartigen Blick aufs Meer. In Ilfracombe angekommen, entschließen wir uns zu einer kurzen Pause, da mich von weitem schon eine kleine Bäckerei magisch anzieht, vielleicht gibt es dort ein Kipferl. Ich betrete das schnuckelige Geschäft und wer kauft dort auch gerade ein? Das nette Pärchen von der Bushaltestelle. Man sieht sich wohl tatsächlich immer zweimal im Leben. Kipferl haben sie trotzdem keines, immer nur Croissants, aber die haben halt deutlich mehr Kalorien. Daher entscheide ich mich für ein kleines Chelsea Bun, das irgendwie wie eine Zimtschnecke aussieht und doch keine ist. Wikipedia meint, dass es eine Art Johannisbeer-Brötchen sei, aber bei mir haben sich die Johannisbeeren als Rosinen getarnt. Egal, lecker ist es auf jeden Fall.
Читать дальше