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„Ist dir klar, dass wir diesen Scheiß noch 57 Mal machen müssen?“
Peter, Ehemann
Tag 2
Strecke: Porlock Weir nach Lynton
19,8 km – 962 hm – 2,76 km/h
am Pfad: 35,1 km
Unterkunft: Rockvale, £ 90,– empfehlenswert
unfassbar heiß
Heute weckt mich wirklich die Sonne, ein Blick durch das riesige Panoramafenster unseres Zimmers verspricht einen strahlend sonnigen Tag. Natürlich sind wir wieder viel zu früh wach. Die Zeitumstellung, auch wenn die Uhr nur eine Stunde zurückzustellen war, haben wir wohl noch nicht ganz verkraftet. Ich bin eine Verfechterin der Abschaffung der Zeitumstellung, ob man sich dafür auf Sommer- oder Winterzeit verständigt, ist für mich sekundär. In Großbritannien hätte uns das aber auch nichts genützt, denn auch hier machte sich im März die Zeit bereit für den Sommer. Im Laufe unserer Wanderung werden wir erfahren, dass ich nicht die einzige bin, die sich für eine Abschaffung der Zeitumstellung ausspricht, einer EU-Umfrage zufolge denken über 80 % ähnlich. Man darf gespannt sein, wie sich das entwickeln wird. Das Ziel, eine einheitliche Regelung für alle EU-Staaten zu finden, scheint mir ein schwieriges Unterfangen zu sein. Eines, das Großbritannien allerdings ohnehin nach dem Brexit nicht mehr tangieren wird.
Wie bereits gestern sind wir die Allerersten beim Frühstück, doch niemand ist zu sehen. Cindy taucht erst nach zehn Minuten im Frühstücksraum auf und ist überrascht, dass sich schon jemand in dem geschmackvoll eingerichteten Zimmer eingefunden hat. Da die Mahlzeit auch noch frisch zubereitet wird, verzögert sich der Start unseres Tages ziemlich. Als es endlich losgeht, hat die Sonne bereits ihre heißen Strahlen ausgefahren und scheint lustig vor sich hin. Wir gehen vorbei am Anchor Hotel und folgen der Ausschilderung nach Culbone, wo sich eine hüb- sche, kleine Kirche befindet. Sie ist die kleinste Pfarrkirche Englands und dem walisischen Heiligen Beuno geweiht. Wanderer des SWCP kom- men in den Genuss, direkt an der unter Denkmalschutz stehenden Kirche vorbeizulaufen; ein Auto müsste man etwa eine Meile vor dem Gottes- haus abstellen.
Oben ist die Sicht am besten.
Von jetzt an verläuft der Weg die meiste Zeit durch bewaldetes Gebiet. Obwohl dadurch etwas Schatten geboten wird, merken wir schnell, dass es immer heißer wird, und mich beschleicht leise das Gefühl, dass wir uns mit unseren eineinhalb Litern Wasser möglicherweise etwas verspekuliert haben. Nachdem wir gestern nur etwas mehr als einen halben Liter getrunken hatten, schien für heute die dreifache Menge eine gute Entscheidung zu sein. Nach den ersten zwei Meilen, in denen bereits ein halber Liter getrunken ist, beschließen wir, uns den Wasservorrat nun gut einzuteilen, denn es gibt keine Pubs oder gar Supermärkte entlang der zehn Meilen, die noch vor uns liegen. Nun steht uns eine Umleitung über Yenworthy Woods bevor, denn die jüngsten Landrutsche haben den ursprünglichen Weg unpassierbar gemacht. Das nächste Highlight soll der „Sister’s Fountain“ sein, eine natürliche Quelle, umzingelt von hohen Bäumen, die den Wasserlauf bewachen. Nach zahllosen Auf- und Abstiegen, die aber zumindest an der durchschnittlichen Länge erträglich sind, kommen wir zu dieser angeblich so wunderbaren Quelle. Ehrlich gesagt hätten wir sie fast übersehen, so winzig war sie. Ein Steinkreuz lässt uns allerdings vermuten, dass sie doch hier in der Nähe sein muss, und nach einer groß angelegten Suchaktion finden wir sie dann auch. Die Quelle mag im Frühling wirklich eindrucksvoll sein, aber jetzt ist sie eher mit einem kleinen Rinnsal zu vergleichen. Wir überlegen kurz, ob wir uns trauen sollen, hier Wasser nachzufüllen, sind dann aber doch nicht so mutig wie Josef von Arimathäa, der sich der Legende nach hier auf seinem Weg nach Glastonbury stärkte. Josef von Arimathäa war laut Johannesevangelium ein heimlicher Jünger Jesu und so eine kleine Verbindung in Richtung Himmel hätten wir heute eigentlich gut gebrauchen können; aber diese Chance vergeben wir und wandern weiter zu den berühmten Wildschweinköpfen in der Nähe von Wingate Combe. Zum ersten Mal lernen wir von einem entgegenkommenden Wanderer, dass hier so gut wie nichts so gesprochen wird, wie es die Schreibweise vermuten lässt. Combe zum Beispiel wird hier in der Region „ku:m“ ausgesprochen und dieses „ku:m“ wird uns die nächste Woche beinahe täglich begegnen.
Wir merken, dass es bereits weit nach Mittag ist, und entschließen uns zu einer Pause. Mittlerweile ist es irrsinnig heiß. Wir haben erst die Hälfte des Weges geschafft, sind allerdings bereits vier Stunden unterwegs. Das kann ja heiter werden … Die Pause halten wir lieber recht kurz, denn es liegt noch ein weiter Weg vor uns und wir wollen schließlich noch bei Tageslicht in Lynton ankommen. Es mag aber nicht so richtig weitergehen, die Beine sind müde und der Schweiß, der von meiner Stirn läuft, trägt mehr Wasser als der Sister’s Fountain. Der wenige Wasservorrat, den wir noch haben, ist schon „bacherlwarm“ und der anstrengende Aufstieg oberhalb des Leuchtturms des Foreland Points steht uns noch bevor. Im Moment beglückwünsche ich mich nicht gerade zu der Entscheidung, den SWCP wandern zu wollen, doch das behalte ich lieber für mich. Seit einiger Zeit merke ich nämlich, dass auch mein Mann zu kämpfen hat und nicht gerade vor Begeisterung sprüht. Im Moment ist alles einfach nur mühsam und wir schauen besser nicht auf unsere Durchschnittsgeschwindigkeit, die derzeit wohl kaum über 2 km/h liegt. Runtastic wird mir am Abend erzählen, dass wir es doch auf 2,76 km/h geschafft haben, mein Gefühl der Langsamkeit in diesem Bereich aber absolut richtig war.
Schritt für Schritt und ohne viel zu sprechen, gehen wir hinab zur Talsohle von Foreland, als plötzlich das Wunder des Tages ganz überraschend an einer Weggabelung wartet. Ein Tisch, zwei Sessel und eine Kühltasche vollgefüllt mit kalten Getränken, Obst und Kuchen. Sogar an Kaffee und Tee wurde gedacht. Dieser Anblick verleiht mir Flügel, ich schwebe förmlich dorthin, schmeiße den Rucksack ins Gras und belege einen der Klappstühle. „Walkers´ Honesty Café – Please give what you can. Thank you.“ ist dort auf einem gelben A4-Schild zu lesen und selten habe ich ein größeres Glücksgefühl verspürt als genau in diesem Augenblick. Wir verspeisen genüsslich sowohl Bananen als auch ein Stück Kuchen und erfreuen uns an den kalten Getränken, als plötzlich ein älteres Ehepaar des Weges kommt. In ihrem Gesicht ist eine Grimmigkeit zu lesen, auf die ich nicht gefasst war, denn eigentlich hätte ich ein strahlendes Lächeln erwartet. Die Frau geht grußlos an uns vorbei, der Mann schaut etwas ratlos. Ich erkläre ihm begeistert das Konzept und tatsächlich entschließt er sich, eine Cola aus der Kühlbox zu nehmen. Dann kramt er 2 Pence hervor und schmeißt es mit den Worten „That’s fair enough“ in die Kühlbox. Mir bleibt fast die Banane im Hals stecken und ich schaue ihm ungläubig nach. 2 Pence entsprechen 2,2 Cent, wie kann man das auch nur annähernd für angemessen erachten? Ich schäme mich für den Mann und kann es immer noch nicht fassen. Im Gegensatz dazu entscheiden wir uns, ganze 10 Pfund in die Dose zu geben, denn für uns war diese „Trail Magic“ fast lebensrettend. Trail Magic ist vor allem bei Weitwanderern ein bekannter, wenn auch weit gefasster Begriff. Er bezeichnet kleine Wunder am Weg, von angebotenen Getränken und Speisen bis hin zu Fahrtendiensten oder Übernachtungsmöglichkeiten. Es sind die Dinge, die den Wanderern das Rundherum ein wenig angenehmer machen.
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