Als sie die Tür der Kneipe aufrissen, konnte Elvira im ersten Augenblick nichts sehen. Tabakqualm, so dick wie Nebel, schlug ihr entgegen. Aber an dem Lärm hörte sie, dass sich eine Menge Leute in dem Raum befinden musste: grölende Männerstimmen, kreischende Frauen.
Die Hand vorgestreckt, tastete sie sich hinter den Dirnen her. Als sie endlich das Ende des Raumes erreicht hatten, rief eine harte Stimme auf: »Verdammt, hab ich euch nicht gestern in die Gosse geschmissen? Wenn ihr nicht auf der Stelle kehrtmacht, fliegt ihr wieder! Aber diesmal ist es so, dass ihr euch ein paar Rippen brecht.«
»Mach halblang, Albert«, sagte die Anführerin. »Wir bringen dir etwas. Du solltest uns wirklich dankbar sein.«
»Was ihr mir anschleppt, darauf kann ich wirklich verzichten«, sagte er wütend. »Los, verduftet! Ihr stinkt mir.«
Hastig wurde Elvira nach vorn geschoben.
»Na, ist das etwa nichts?«
Elvira sah jetzt einen Mann vor sich, wie sie noch keinen in ihrer Kleinstadt gesehen hatte. Zuerst einmal sah er wie ein Filmschauspieler aus. Er hatte ein raffiniertes Gesicht mit einem Schnauzbart, dazu trug er ein knallrotes Hemd und schwarze Samthosen. Er war umwerfend, und sie himmelte ihn gleich an.
Albert, der Kneipenbesitzer, sah zornig aus. Als er jetzt aber Elvira gewahrte, meinte er: »Wo habt ihr die denn aufgegabelt?«
»Am Pinnasberg. Dort streunte sie im Regen herum und suchte Arbeit. Sie ist von zu Hause ausgerissen, musst du wissen. Hast du gestern nicht gesagt, dass du eine Hilfe in der Küche brauchtest, Albert?«
»Ja, das habe ich gesagt.«
Er taxierte sie wie ein Pferd. Und erkannte sofort, dass sie aus gutem Hause war, also kein Flittchen. Mit denen zusammenarbeiten zu müssen, war schlimm. Die stahlen, wo sie nur konnten, und waren faul. Außerdem wuschen sie sich nur, wenn sie Geburtstag hatten.
Elviras Herz klopfte bis zum Hals. Sie wagte nicht etwas zu sagen. Alles war so unwirklich. Ihr war, als hätte eine Fee sie hierhin gezaubert. Alles war so aufregend und neu.
»Du gefällst mir«, sagte er und kniff ihr in die Backe.
Sie riss ihre Augen weit auf und errötete sofort. Aber das konnte man wegen des schummrigen Lichtes Gott sei Dank nicht sehen.
»Willst sie also haben?«
»Verstehst du was von der Küche?«
»Ein wenig«, lispelte sie.
»Ich hab einen Koch, dem musst du zur Hand gehen. Ich will es mit dir versuchen.«
Die Dirnen waren furchtbar stolz.
»So sind wir«, sagten sie anzüglich.
»Einen Dreck seid ihr!«, fluchte er, aber dann lenkte er ein und sagte: »Jonny soll euch ein Bier geben. Aber danach verschwindet ihr von der Bildfläche.«
Sie gingen zur Theke.
»Komm mit«, sagte Albert und nahm Elvira mit in die Küche. Zu ihrem Erstaunen sah sie, dass es sich um einen chinesischen Koch handelte.
»Lie-San frisst dich nicht auf«, sagte Albert.
Elvira schluckte. Sie hatte sich eigentlich das Leben in Hamburg ein wenig anders vorgestellt. Und wenn sie ehrlich sein wollte, so hatte es ihr nie Spaß gemacht, der Mutter im Haushalt zu helfen. Aber der bloße Gedanke, dass sie Albert jetzt immerzu sehen würde, machte sie willig.
»Leg deinen Rucksack dort ab, und dann hilf ihm. Später sehen wir weiter.« In dieser Nacht arbeitete Elvira, wie sie es noch nie getan hatte. Gegen Morgen, als der Betrieb endlich nachließ, hatte sie das Gefühl, die Beine würden ihr abfallen.
Lie-San lächelte nur und meinte lispelnd: »Wird schon werden.«
Sie lächelte zurück, ließ sich auf einen Stuhl fallen und war gleich darauf eingeschlafen. Irgendjemand rüttelte sie wach.
»Komm mit, ich zeig dir deine Kammer!«
Blinzelnd öffnete sie die Augen und sah Albert vor sich. Sie nahm ihren Rucksack und stolperte hinter ihm her. Oben unterm Dach wies er ihr eine kleine Mansarde zu.
»Der Koch ist mit dir zufrieden«, sagte Albert.
Elvira sah nur das Bett, ließ sich darauf nieder und fiel gleich in tiefen Schlaf.
Als sie erwachte, war es schon heller Tag. Sie sah aus dem Fensterchen. Vor ihr lag die Nordelbe. Schiffe tuckerten vorüber. Möwen kreischten und flogen hinterher, in der Hoffnung etwas Essbares zu erwischen.
Elvira sagte sich: »Ich bin jetzt in Hamburg.« Und ein tiefes Glückgefühl durchpulste sie.
Sie fühlte sich hungrig, aber zuerst wusch sie sich gründlich, zog ein frisches Kleid an und ging dann nach unten. Lie-San gab ihr etwas zu essen.
»Arbeit fängt erst um fünf Uhr an«, sagte er und nickte freundlich. »Ich kann dich gebrauchen, du bist schlau.«
Albert kam durch die Pendeltür und blieb erstaunt stehen. Nun erst, bei Tageslicht, sah er, wie hübsch und grazil sie war. Seine Augen blitzten unwillkürlich auf.
»Ich habe dich für eine Küchenschabe gehalten, aber jetzt sehe ich, dass du ein Goldkäferchen bist.«
Elvira lächelte ihn strahlend an.
Albert Lanner stammte aus dem tiefsten Milieu. Schon als Junge hatte er oft mit der Polizei zu tun gehabt: Erziehungsanstalt und so weiter. Doch als er volljährig geworden war, sagte er sich: Für so kleine Delikte sitzen zu müssen, das ist wirklich dumm. Albert war kalt und berechnend; und mit zwanzig hatte er sich geschworen, einmal im Geld zu schwimmen. Dann würden sich alle vor ihm verbeugen. Das konnte er aber nicht werden, wenn er fleißig arbeitete, sondern nur, wenn er andere für sich arbeiten ließ. Er wollte sich hier ein Imperium aufbauen wie es kein zweites gab. Später würde er dann auf andere Städte übergreifen und auch dort alles an sich reißen. Aber zuerst musste er sich hier Wurzeln holen, sozusagen fest verankern.
Vor gut einem halben Jahr hatte er diese Kneipe für wenig Geld erstanden. Noch drei, vier Monate, und sie gehörte ihm ganz. Es war ein stinkendes Loch, und er musste mit dem Abschaum der Menschheit vorliebnehmen. Aber er legte jeden Pfennig zur Seite. Wenn er genügend hatte, wollte er diese Bude renovieren. Nur noch die ganz großen Fische sollten dann bei ihm verkehren. Ein Netz würde er über diese Stadt legen, und überall würde er Lokale nach seinem Geschmack eröffnen.
Gestern Nacht hatte er mit Anke und Lola ein langes Gespräch gehabt. Sie standen bei ihm hoch in der Kreide, konnten ohne Alkohol nicht mehr auskommen. Er würde nie das Geld von ihnen bekommen. Aber Albert ließ sich so etwas nicht bieten. Er hatte sie vor die Wahl gestellt:
»Entweder ihr bezahlt heute alles, oder ihr geht für mich auf den Strich. Eure Einnahmen krieg ich ungeteilt, fünfhundert pro Nase und Nacht. Dafür bekommt ihr Essen und Trinken so viel ihr wollt. Und auch ein Zimmer zum Pennen.«
Sie hatten sich erst furchtbar aufgeregt. Die kleinen »Strichmiezen« wollten keinen Zuhälter haben. Albert beschwatzte sie, dass er ja gar keiner sei, er dächte nur an ihr Wohl. Die anderen würden sie doch nur ausnehmen.
Das stimmte, denn sobald sie ein wenig Geld in der Tasche hatten, waren sie spendabel. Alles trank mit, aber wenn sie dann blank waren, warf man sie hinaus.
Anke und Lola waren die ersten Mädchen, die für ihn standen. Das waren also pro Nacht tausend Mark. Essen und Trinken für die beiden fiel so nebenbei ab. Und das Zimmer oben unter dem Dach stand ohnehin leer. Heute Morgen hatte er zwei Feldbetten, einen Schrank und zwei Stühle hinaufgeschafft. Dabei hatte er festgestellt, dass noch Platz für zwei Betten vorhanden war. Er würde also neben der Kneipe ein sehr lukratives Geschäft aufziehen. Sein Traum waren Bars mit viel Plüsch, und darin durften nur die Stardirnen arbeiten. Natürlich mussten sie für ihn anschaffen. Oder zumindest behielt er einen beträchtlichen Teil ihrer Einnahmen einfach ein.
Der Krieg war schon lange vergessen. An allen Ecken und Enden wurde wieder aufgebaut, und bald würde der Augenblick kommen, wo die Männer wieder so viel verdienten, dass sie sich ihre Späßchen leisten konnten. Und dann musste er, Albert, da sein. Er würde diese Marktlücke schließen und dabei steinreich werden.
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