»So etwas war ja zu erwarten«, frotzelte Rolf grinsend, »im Oberland sind doch alle irgendwie miteinander verwandt. Dann machen wir es doch so: Zuerst nehmen wir hier die Spuren auf und packen den Toten ein, und dann holst du, Peter, die Frau, und Anna befragt sie.« Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete Rolf den grossen Koffer, den sie mitgebracht hatten, und packte das für die Spurensicherung benötigte Material aus. Während Anna das Zimmer nach Spuren absuchte, machte Rolf unzählige Fotos vom Tatort. Erst am Schluss untersuchten beide vorsichtig den toten Mann und wickelten ihn danach in ein grosses weisses Tuch ein.
»Wie wollt ihr eigentlich vorgehen«, fragte Rolf, »um die Tatwaffe zu finden?« Anna überlegte einen Moment.
»Was könnte der Täter damit gemacht haben? Gereinigt und bei sich behalten? Dann könnten wir wahrscheinlich immer noch Reste von Blut nachweisen. Aber wir müssten vielleicht sämtliche Räume durchsuchen, um das Ding zu finden, eine Heidenarbeit. Oder hat er das Messer irgendwo entsorgt? Mitten in der Nacht keine einfache Aufgabe, wenn man kein Risiko eingehen will, entdeckt zu werden. Vermutlich wird es dann nicht allzu weit weg sein, aber in dieser unübersichtlichen Landschaft trotzdem schwierig zu finden. Wenn er es allerdings vergraben hat, sogar sehr schwierig…« Rolf nickte.
»Dann schlage ich vor, dass ihr heute mal die Umgebung des Hotels grob durchkämmt. Wenn ihr nichts findet, könnt ihr Verstärkung anfordern für eine detailliertere Suche.«
»Einverstanden«, erwiderte Anna.
»Und noch etwas«, fuhr Rolf fort, »das ja eigentlich selbstverständlich ist. Niemand darf heute, bevor die Durchsuchungen und Befragungen abgeschlossen sind, ohne eure Bewilligung das Haus verlassen.« Peter nickte.
»Das haben wir schon veranlasst.« Zu dritt hoben sie dann den eingewickelten Toten hoch, schleppten ihn hinunter und luden ihn in den Leichenwagen der Polizei. Rolf Ramseier holte noch das übrige Material aus dem Zimmer, verabschiedete sich und machte sich auf den Weg nach Bern.
»Siehst du, Anna, hier können wir in aller Ruhe die Befragungen durchführen. Und der Kaffee steht auch schon bereit.«
»Ausgezeichnet«, lobte Anna Burger und setzte sich an den kleinen Besprechungstisch.
»Dann hole ich jetzt die Frau des Verstorbenen«, sagte Peter Kehrli und ging hinaus.
Anna schaute sich im Raum um. So etwas wie dieses Hotel hatte sie noch nie in ihrem Leben gesehen. Sie betrachtete die alten lilafarbenen Tapeten mit dem gelblichen Lilienmuster, die mit geschwungenem Stuck verzierte Decke, den uralten Schreibsekretär aus dunkel gebeiztem Holz, das viel zu massige Büchergestell, den klobigen Schreibtisch mit den gebogenen Beinen. Sie fühlte sich vollkommen deplatziert, als befinde sie sich plötzlich in einem anderen Leben. Eine verrückte Idee ist das schon, dachte sie, in diesem abgelegenen Tal ein solches Hotel zu bauen. Und mit dieser altertümlichen Einrichtung auch im einundzwanzigsten Jahrhundert noch Erfolg zu haben! Offensichtlich sehnen sich viele Leute nach der früheren, einfacheren Lebensweise.
Es klopfte, und Peter trat mit einer Frau mittleren Alters ein.
»Ich lasse euch jetzt allein«, sagte er und verschwand gleich wieder. Die Kommissarin kam auf Linda Moser zu.
»Guten Tag Frau Moser, es tut mir sehr leid, dass ihr Mann so hat sterben müssen, und ich fühle mit Ihnen.« Sie legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter.
»Bitte nehmen Sie Platz und erzählen Sie mir, was sich gestern Nacht zugetragen hat.« Linda Moser setzte sich seufzend.
»Nun, da gibt es nur wenig zu berichten. Nach dem gemeinsamen Abendessen gingen wir, das heisst alle zehn Mitglieder der Familie Moser, in die Bar zu einem Schlummertrunk. Die Brüder Moser, also Samuel und mein Mann Matthias, hatten sich gegen elf Uhr verabschiedet, und die drei Jugendlichen gingen auch bald nachher. Wir anderen blieben noch in der Bar sitzen. Um halb zwölf wurden wir wie üblich hinauskomplimentiert und gingen alle zusammen ins Hotelgebäude zurück. Ich stieg hinauf zu unserem Zimmer und fand… Matthias leblos da liegen. Hm, weiss man denn schon etwas Genaueres darüber, wie mein Mann… zu Tode gekommen ist?«
»Erst die Autopsie wird genaue Klärung bringen. Aber er wurde wohl mit einem Messer von hinten niedergestochen.«
»Ach wie furchtbar. Wer könnte denn sowas tun?«
»Ja«, erwiderte Anna Burger, »es ist manchmal unbegreiflich, wozu Menschen fähig sind. Und leider treffen wir dies in unserem Beruf häufig an. Frau Moser, wir gehen jetzt zusammen in das Zimmer, wo Sie den Toten gefunden haben. Aber haben Sie keine Angst, es ist nichts mehr von den nächtlichen Ereignissen zu sehen.«
Die beiden Frauen stiegen langsam die Treppe hoch. Als sie das Zimmer siebzehn betraten, schien darin tatsächlich nichts mehr auf die Geschehnisse der Nacht hinzudeuten.
»Bitte schauen Sie sich jetzt ganz genau um hier im Zimmer«, sagte die Kommissarin, »fällt Ihnen irgendetwas auf, hat sich etwas verändert, wurde vielleicht etwas gestohlen?« Linda blickte um sich.
»Ach je, darauf habe ich doch in der Nacht gar nicht geachtet. Wissen Sie, nachdem ich gegen Mitternacht meinen Mann hier tot gefunden hatte, packte ich nur schnell Nachthemd und Zahnbürste zusammen und ging dann zum Schlafen in das Zimmer meiner Tochter Elena.«
»Das verstehe ich gut«, meinte die Kommissarin mitfühlend. Linda öffnete die oberste Schublade der grossen Kommode und stiess sogleich einen spitzen Schrei aus.
»Nein, das darf nicht wahr sein! Mein ganzer Schmuck ist weg, und das Bargeld auch! Warum nur habe ich ausgerechnet gestern das teure Armband und den Diamantring nicht getragen, wie schade!«
»Also doch ein Diebstahl«, murmelte Anna Burger, öffnete ihre Tasche und reichte Linda Moser ein Formular.
»Hier können Sie dann eintragen, was fehlt. Aber schauen Sie vorher noch alles ganz genau durch.« Linda, mittlerweile verunsichert und zittrig, öffnete hastig die weiteren Schubladen, den grossen Schrank und ihre Gepäckstücke, fand jedoch keine weiteren Hinweise auf einen Diebstahl.
»Und, was passiert jetzt?«, fragte sie schliesslich, »müssen meine Tochter und ich noch länger hier im Hotel bleiben?« Anna Burger dachte kurz nach.
»Nun, Sie dürfen sicher heute noch heimreisen, wenn Sie dies wünschen. Die Anmeldung des Todesfalles beim Zivilstandsamt können Sie allerdings erst am Montag vornehmen. Ich möchte Sie aber bitten, heute noch bis Mittag hier zu bleiben, falls wir noch weitere Fragen hätten. Und vielen Dank für Ihre Hilfe.« Linda Moser nickte zerstreut und verliess ohne ein weiteres Wort das Zimmer.
»Nun, wie ist es gelaufen?«, fragte Peter Kehrli, als Anna Burger wieder zurück ins Büro kam. Er fühlte sich jetzt schon viel weniger gestresst in Annas Gegenwart, der Schreck über sein ungeschicktes Benehmen bei der ersten Begegnung war abgeflaut, er konnte ihr jetzt, ohne innerlich zu zittern, in die Augen sehen. Von oben herab zwar, weil er so gross war, aber das ging ihm ja mit fast allen Menschen so. Erneut zog ihn ihre Erscheinung völlig in den Bann. Wie wunderschöne dunkle Augen sie doch hatte! Und dazu das wohlproportionierte Gesicht, die von einigen Sommersprossen verzierten Wangen, die leichte Stupsnase und die vollen, sanft geschwungenen Lippen! Und diese Statur, dieser leichte Gang! Wie alt mochte sie sein? Um die dreissig, schätzte er, also genau richtig…
Peter zuckte zusammen, als Anna auf seine Frage antwortete.
»Ganz gut, denke ich. Diese Linda Moser ist wirklich eine aussergewöhnliche Frau. Äusserst feminin, gleichzeitig sehr sportlich, aber auch offen und sympathisch. Ich nehme an, die Männer laufen ihr scharenweise nach. Und wenn ich das im Vertrauen sagen darf, ohne dir zu nahe zu treten: Ich hatte den Eindruck, dass sie über den Verlust ihres Schmuckes fast ebenso traurig war wie über den Verlust ihres Mannes.«
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