1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 Durch den Kontakt mit meinem inneren Kind erkannte ich die Tragödie meines Lebens und konnte mich als verletzten anstatt als schlechten Menschen betrachten. Jahrelang hatte ich gedacht, bei mir wäre alle Mühe vergeblich und ich könnte nicht geheilt werden; doch jetzt sah ich, dass meine Unschuld nicht wegging. Sie war wie ein winziges Flämmchen eines Streichholzes, das zwar flackerte, aber nicht verlosch.
Ich fand das mir innewohnende Gute wieder, den Teil von mir, der von diesen Leuten, die alles andere an mir verletzt und zerstört hatten, nicht verletzt werden konnte. Nach und nach beelterte ich mich neu. Ich liebte mein inneres Kind und sorgte für es, und so lernte ich, mich selbst zu lieben und mich um mich zu kümmern. Letztendlich befreite ich mich dadurch aus einer Sucht, mit der ich über 20 Jahre gekämpft hatte.
Kapitel 4
Meinen Sinn finden
Die große Abkürzung
Zu Beginn meiner Reise wurde ich, wie ich zugeben muss, oft eifersüchtig, wenn ich Leute beobachtete, die sich selbst liebten; ich saß da und machte ein finsteres Gesicht. Wer sich selbst und sein Leben hasst und dann auf Menschen trifft, die sich putzmunter und glücklich ihres Lebens erfreuen, würde diese Leute zunächst einmal am liebsten umbringen. Das klingt vielleicht arg hart, aber Sie wissen schon, was ich meine.
Ich nahm es übel, wie sie nach Lust und Laune Entscheidungen trafen, die für sie am besten passten, als ob das so einfach wäre. Doch dann ging mir auf: Vielleicht ist es eben so einfach. Vielleicht machten wir anderen es uns schwer. Wie mir klar wurde, hatte ich die lange Straße genommen, um mich gut zu fühlen. Diese Leute dagegen, die sich selbst liebten, nahmen die Abkürzung. Ich war auf der Jagd nach Glück, doch sie entschieden sich dafür.
Ich hatte keine Ahnung, was mich glücklich machen würde, ebenso wenig, was meine Lebensaufgabe bzw. der Sinn meines Lebens war. Doch inzwischen kenne ich die Wahrheit: Auf dem Weg zum Glück und zum Sinn des Lebens gibt es so etwas wie eine falsche Entscheidung nicht, denn es geht dabei nicht nur um eine Sache . Sein Glück und seinen Lebenssinn zu finden hat mit allen Entscheidungen zu tun. Zum besseren Verständnis folgen hier ein paar Beispiele aus meinem Leben.
In jüngeren Jahren wollte ich ein professionelles Model werden. Auf den ersten Blick ergab das überhaupt keinen Sinn. Ich war eine Denkerin und ein Wildfang, extrem introvertiert und verbrachte fast meine gesamte freie Zeit mit Schreiben.
Mit der Zeit ergab dieser Beruf sogar noch weniger Sinn. Ich hasste ihn. Es war ein erbarmungsloses, seichtes, unangenehmes Geschäft. Mein Versuch, in die Welt der Models zu passen, war wie der Versuch, einen viereckigen Zapfen in ein rundes Loch zu stecken. Doch wie ich inzwischen weiß, gibt es so etwas wie Fehler nicht, deshalb war dieser Schritt, so wenig er passte, dennoch auf vielerlei Art wertvoll. Meine Lebensberufung war das allerdings ganz bestimmt nicht.
Die Wahl zwischen College und Wurzelbehandlung
2006 war ich nach wie vor auf der Suche nach meinem Weg und entschied mich, das College zu besuchen und Philosophie als Hauptfach zu studieren. Ich stammte ja aus einer sehr gebildeten Familie und war davon überzeugt, mit einem College-Abschluss würde ich glaubwürdiger sein und mehr respektiert werden …, allerdings gab es da ein Problem. Ich hasse Unterricht. Ich saß in den dunklen Hörsälen, hörte den Vorlesungen zu und fühlte mich wie bei einer Wurzelbehandlung beim Zahnarzt. Es war einfach schrecklich.
Beim Anblick all der anderen Gesichter fragte ich mich, ob nur Leute Philosophie studieren, die, so wie ich, depressiv, passiv suizidal und verzweifelt auf der Suche nach einem Sinn im Leben sind. Nach einem Monat schwante mir, dass ein solcher Abschluss in Philosophie mir nie im Leben etwas nützen würde. Wenn wir erst einmal mit dem Studium fertig wären, würde uns kein Mensch dafür bezahlen, herumzusitzen und zu denken .
Ich fragte mich: Warum wünsche ich mir eigentlich Glaubwürdigkeit und Respekt? Die Antwort lautete: Es würde sich gut anfühlen. Plötzlich ergab ich für mich selbst keinen Sinn mehr. Da saß ich im College, fühlte mich miserabel und hasste jede Minute, weil ich mich gut fühlen wollte? Anders ausgedrückt: Ich fühle mich jetzt schlecht, weil ich denke, dass ich mich dadurch irgendwann mal gut fühle? Ich brachte da wohl etwas durcheinander.
Als Philosophiestudentin wusste ich natürlich meistens, wie solche geistigen Rätsel einen Sinn ergeben. Doch egal, von welcher Seite ich es betrachtete: Dies war überhaupt nicht sinnvoll. Anstatt direkt das in Angriff zu nehmen, wodurch ich mich gut fühlte, versuchte ich es mit einem Umweg. Also fragte ich mich: Was würde jemand, der sich selbst liebt, wohl tun?
Und sofort wusste ich die Antwort: Eine solche Person würde das, was sich gut für sie anfühlt, auf der Stelle tun.
Was fühlt sich für mich gut an? Wintersport. Ich liebte das Freiheitsgefühl, wenn ich auf meinen Schlittschuhen über die glatte Eisfläche glitt. Ein Jahr zuvor hatte ich es zwar ins U.S. Telemark Ski-Team geschafft, fand aber keinen Sponsor für meine Karriere als Skirennläuferin; also tauschte ich meine Skier offiziell gegen Schlittschuhe ein. Ich dachte, ich würde eine konkurrenzfähige Eisschnellläuferin werden.
Ich sagte mir, irgendeine Art Wintersport professionell zu betreiben sei besser als nichts, aber ich war nicht die beste Eisschnellläuferin der Welt. Ich hatte damit nicht in frühester Kindheit begonnen und war nicht mein Leben lang auf Inlinern herumgerast wie fast alle anderen professionellen Eisschnellläufer.
Ich hatte Potenzial, aber damit hatte es sich auch. Doch ich liebte jede einzelne Minute.
Auf der Suche nach einer anderen Abkürzung zum Glück
Auf meine Frage »Was würde jemand, der sich selbst liebt, tun?« lautete die Antwort: Gib die Schule auf, lass dich Vollzeit auf das Eisschnelllaufen ein und schau nie zurück .
Genau das tat ich. Ich nahm die Abkürzung zum Glück und lebte mein Leben gemäß der Frage »Was würde jemand, der sich selbst liebt, tun?« . Von nun an genoss ich mein Leben. Ich folgte meiner Leidenschaft, und es war toll.
Doch es dauerte nicht lange, und ich war erneut vor eine Entscheidung gestellt. Durch mein äußerst anstrengendes Training geriet ich in die vorzeitige Menopause, und die körperlichen Schäden an meinen Fortpflanzungsorganen aufgrund meiner Kindheitserlebnisse hatten das Zeitfenster für eigene Kinder bereits sehr einschränkt. Ich hatte eine Besprechung mit meinen beiden Frauenärztinnen, und beide meinten übereinstimmend, wenn ich weiterhin so hart trainierte, würde ich unter Umständen nie Kinder haben können.
Ich stand vor einer schwerwiegenden Entscheidung: Ist es wichtiger, ein Kind zu haben – oder meinem olympischen Traum nachzujagen? Als Teenager hatte ich insgesamt durch erzwungene Abtreibungen, die mein Peiniger selbst vorgenommen hatte, vier Babys verloren, ein Zwillingspärchen und zwei weitere Babys. Ich hatte das tiefe Bedürfnis, zu erfahren, wie es wäre, mein Baby auszutragen und es nicht wieder zu verlieren. Ein Teil meiner selbst würde nie vollständig sein, wenn ich nie erfahren würde, dass es wenigstens einmal gut ging.
Zu der Zeit war ich gerade frisch verheiratet; mein Mann und ich entschieden gemeinsam, ein Kind zu haben wäre für uns beide wichtiger. Doch die Empfängnis war schwierig. Ich musste eine spezielle Behandlung gegen meine Unfruchtbarkeit mitmachen, und schließlich bekamen wir einen gesunden kleinen Jungen.
Die Geburt meines Sohnes stellte mich vor die nächste Entscheidung: Will ich ein ruhiges Privatleben führen und nur Hausfrau und Mutter sein, oder will ich mich mit meiner Vergangenheit outen, in die Welt hinausgehen und mit dem, was ich weiß und gelernt habe, anderen Menschen helfen, ein besseres Leben zu führen?
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