Unsere beschützenden Teile in einer Beziehung
Nehmen Sie sich jetzt bitte einen Moment Zeit, darüber nachzudenken, was mit Ihnen passiert, wenn Sie sich in einer Paarbeziehung verletzt oder verängstigt fühlen. Wozu neigen Ihre beschützenden Teile? Wollen sie davonlaufen? Sich wehren? Nicht mehr zuhören? Intellektualisieren? Sich unterwerfen? Egal, welche Taktik Ihre beschützenden Teile anwenden, sie haben das geradezu unheimliche Talent, genau das hervorzurufen, was Sie zu vermeiden hofften, so wie es Naomi in unserem Beispiel getan hat. Diese Teile haben sich während unserer Entwicklung herausgebildet, weil sie zum entsprechenden Zeitpunkt gebraucht wurden, aber anschließend sind sie bei uns geblieben und wiederholen nun dieselbe alte Taktik als Reaktion auf Stress oder Bedrohungen, obwohl unser Leben sich verändert hat. Wir wirken und reden zwar wie Erwachsene, aber wenn unsere kindlichen Teile aufgrund von impliziten Erinnerungen auf Bedrohungen reagieren, reißen sie uns mit.
In IFIO durchbrechen wir diesen Kreislauf, indem wir das tun, was Schwartz (2019) als radikale Kehrtwende (U-Turn) bezeichnet. Es ist eine Strategie, mit der die entscheidende Beziehung des Selbst zu den Teilen entwickelt wird. Durch diese Kehrtwende konzentrieren die beiden Personen sich in erster Linie auf ihr eigenes Verhalten statt auf das ihres Gegenübers. Schon im Voraus sei warnend darauf hingewiesen, dass mit heftigen Reaktionen zu rechnen ist, wenn die beschützenden Teile den Prozess als Forderung verstehen, starke Reaktionen zu unterdrücken und ein unannehmbares Verhalten der anderen Person zuzulassen. Deshalb zeigen wir verschiedene Möglichkeiten auf, die Kehrtwende so zu vollführen, dass die beschützenden Teile sie als das erkennen, was sie ist: eine Einladung, nach innen zu gehen, um mit Neugier und Mitgefühl zuzuhören.
Bei den folgenden Fallbeispielen geht es unter anderem darum, dass eine der beiden Personen sich von ihren Teilen löst und Zugang zum Selbst findet, was ihr dabei hilft, ihr vegetatives Nervensystem zu regulieren, effizienter zu kommunizieren und schließlich ihre Beschämung zu entlasten. Eine solche innere Heilung hat eine direkte Wirkung auf die Beziehung (Schwartz 2018).
Zum Gespräch zurückkehren
Nach der Kehrtwende kehren wir zum Gespräch zurück und richten den Fokus wieder auf das Paar. Wir helfen den beiden, von ihren Teilen gelöst zu bleiben, damit sie leichter miteinander über ihre Hoffnungen und Ängste sprechen können, über ihre früheren Verletzungen, darüber, wie ihre Bedürfnisse erfüllt werden können, und was sie von sich und voneinander erwarten. Zuerst lernt das Paar, die verletzlichen Teile zu erkennen, die seinem Konflikt zugrunde liegen, und dann lernt es, sich um diese Teile zu kümmern. Dadurch können die beiden miteinander auf ganz andere Weise präsent sein. Auch das wird in den folgenden Kapiteln ausgeführt.
Ein liebevolles Verhältnis wiederherzustellen, kann die Wunden heilen, die in einer Beziehung entstanden sind. Dadurch verändert sich das Verhalten und dadurch auch das Gehirn. Daher kann eine Paartherapie eine Variante der Entlastung bieten, die ich als Beziehungsentlastung bezeichne. Während eine der beiden Personen innerlich zum Zeugen für ihre jungen Verbannten wird, wird die andere Person auch zum Zeugen. Diese Entlastung, die verschiedene zeitliche Schichten hat und verschiedene Aspekte der Verbundenheit anspricht, ermöglicht es den Verbannten, innerlich wie äußerlich eine korrigierende Erfahrung zu erleben (Ecker u.a. 2016).
Es ist unser Ziel, das Paar zu einer beiderseitig zufriedenstellenden Situation zu führen, was immer das für die beiden bedeuten mag. Statt ihnen zu helfen, Probleme zu lösen oder Lösungen für unvermeidliche Kämpfe zu finden, wollen wir eine Beziehung mit einer sicheren Bindung entstehen lassen. Das fördert offene, fürsorgliche Interaktionen und die Wertschätzung für Unterschiede ebenso wie für Gemeinsamkeiten. Wenn die beiden sich sicher genug fühlen, ihre Teile und zugleich die ihres Gegenübers zu verstehen und für sie zu sorgen, verändert sich die Interaktionsweise meist dramatisch. Dann können endlich jene schwierigen Gespräche geführt werden, in denen es um Sicherheit, Geborgenheit, Ärger, Wut und Sex geht, darum, wer den Abfall runterbringt und darum, wie man um Vergebung bittet und vergibt.
Das Paar kennenlernen und die Methode vorstellen
In diesem Kapitel stellen wir den Ablauf einer typischen ersten Sitzung (oder der ersten paar Sitzungen) vor. Ich bekomme ein Gefühl für das Paar, schätze seinen Grad an Differenzierung ein und spreche mit den beiden darüber, welche Bedenken sie hinsichtlich der Therapie haben, aber auch über ihre Hoffnungen und Ziele. Außerdem erkläre ich ihnen die Methode und biete ihnen einen Überblick über die vorhandenen Möglichkeiten. Und ich entlocke ihnen die Informationen, die ich von ihnen haben will. Unter anderem sind das Einzelheiten über die erste Zeit ihrer Beziehung, über die Ursprungsfamilien, darüber, wie sie streiten und wie sie um Vergebung bitten (falls sie das tun). Von Interesse sind auch die Bürden, die sie momentan mit sich herumschleppen, darunter die normalen Stressfaktoren des Lebens, besondere unglückliche Umstände und vorhandenes Fehlverhalten.
Die Rolle von IFIO-Therapeutin oder -Therapeut
In IFIO haben wir die maßgebliche Aufgabe, dem Paar zu helfen, ein optimales Erregungsniveau zu erreichen, was phasenweise bedeutet, alles uns Mögliche zu tun, um Schaden zu verhüten. Mit diesem Ziel im Blick achten wir darauf, welche Teile gerade auftauchen (unsere oder die des Paares), wir nehmen den Grand an Verschmelzung wahr und stimmen uns besonders auf die beschützenden Teile ein, die angreifen oder erstarren. Das heißt, wir fungieren als Teile-Detektor (Schwartz 2019) für das Mini-System, das aus dem Paar und uns selbst besteht. Um diese Rolle einnehmen zu können, bitten wir um die Erlaubnis, Angriffe zu verhindern, indem wir das Geschehen so oft und so schnell unterbrechen, wie wir es für nötig halten. Außerdem halten wir Ausschau nach Teilen, die nicht angreifen, sondern die betreffende Person erstarren lassen, durch Dissoziation, Betäubung oder geistige Abwesenheit. In den ersten Sitzungen kommt das zwar nur selten vor, aber – wie wir sehen werden – später in der Therapie ziemlich häufig.
Die erste Sitzung mit Susan und Marco
»Nun, was hat Sie hierher geführt?«, fragte ich.
»Die letzten paar Jahre waren katastrophal«, fängt Susan an. »Ich weiß gar nicht, was da passiert, aber wir haben immer öfter Streit ... und der dauert tagelang.«
Marco nickt. »Ja, es war hart. Obwohl wir einander lieben, das stimmt doch, Sue, oder?« Er wirft ihr einen Blick zu. »Trotzdem tun wir einander weh und haben keine Ahnung, wie wir auf die Bremse treten können.«
Studien weisen darauf hin, dass ein Paar im Durchschnitt sechs Jahre unglücklich ist, bevor es in die Therapie kommt (Notarius und Buon-giorno 1992). Dann fühlt es sich bereits entmutigt, ausgelaugt und traurig. Wenn wir den beiden vermitteln, dass es Teile und das Selbst gibt, fällt es ihnen normalerweise leichter, für das, was in der Beziehung geschieht, präsent zu sein. Im weiteren Verlauf besteht unser Ziel darin, dass die beiden lernen, geschickt miteinander zu kommunizieren, weniger impulsiv zu reagieren, ihre Lasten abzulegen, die Beziehung zu reparieren und sich neue Verhaltensweisen im Umgang miteinander anzugewöhnen. In der ersten Sitzung geht es vor allem darum, ein Fundament für dies alles zu schaffen und eine möglichst sichere Umgebung herzustellen. Wie alle Lebewesen brauchen wir Menschen Sicherheit. Weil wir ständig Ausschau nach Gefahren halten (besonders in einer Beziehung) und weil nur ein Gefühl der Sicherheit defensive Reaktionen verhindert (Porges 2007), müssen wir unbedingt dafür sorgen, dass unsere Klienten sich sicher fühlen.
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