Bevor Angelica, eine jüngere Dienerin, den kühlen Wein und feuchte Tücher servieren konnte, nahm Juliana den erfrischenden Stoff fort und stopfte ihn von ihrer Tante unbemerkt unter ihren Surcot. Angelicas Augen wurden noch größer, denn Dina bat darum, das Eingangsportal zu öffnen. So fände der Wind Einlass in die Casa. Ihre Mutter wusste, dass die träge Hitze des Tages nun durch alle Räume und den Vorhof fluten würde.
Tante Apollonia war einfältig. Und vor allem darauf bedacht, die Unvernunft ihres Bruders zu hinterfragen. »Was für ein Spektakel erzählt man sich auf den Straßen? Ferdinando soll betrunken gewesen sein? Ich schäme mich zu Tode, mich rechtfertigen zu müssen. Meine Freundinnen reden von nichts anderem mehr!«
Dina seufzte. »Ferdinando selbst ist nicht glücklich über den Verlauf dieses Tages. Es war ein heißer Tag. Sie hatten nicht darauf geachtet, genügend zu trinken.«
»Er ist notario, kein Trunkenbold. Dina, bei allem Respekt, ich befürchte, es fehlt dir an Entschlossenheit und Kraft, deine Familie zu führen.« Apollonia zeigte auf Juliana und packte sie an der Hand. »Nicht mal ein Waschweib vom Arno hat solch schmutzige Hände! Deinem Mann werfen sie Steine hinterher, und dann sperrt ihr euch ein … Seid ihr noch bei Verstand?«
Dina starrte auf Julianas Hände, dann wanderte ihr Blick hoch. »Steine? Juliana, ist das wahr?«
Julianas Augen füllten sich mit Tränen. Die schmerzliche Erinnerung zerriss ihr das Herz, der plötzlich verstehende Blick ihrer Mutter noch mehr. »Ich weiß nicht, was passiert ist! Ich kam aus der Kirche und Vater torkelte, weinte, schrie und …« Ihre Stimme erstarb. »Er stank wie ein Kind.«
»Warum erzählst du solchen Unsinn, Juliana?«
Erschrocken wirbelte sie herum. Hatte Vater schon lange hinter ihr gestanden? Zu lange, fürchtete sie.
Mit bleichem Gesicht betrat er den Salon und schüttelte fassungslos den Kopf. »Mein eigen Fleisch und Blut. Geh mir aus den Augen, sofort!«, schrie der notario außer sich und warf das Tablett nach Juliana, das Angelica aus Verwunderung hatte stehen lassen.
*
Benommen kehrte Juliana in ihre Kammer zurück und schloss mit zitternden Fingern die Fenster. Die Läden hielten nicht nur die Hitze fern. Das dämmrige Licht verhinderte, dass ihr sehnsüchtiger Blick etwas erspähte, das ihr fern wie nie schien. Noch immer hallte Vaters zornige Stimme in ihren Ohren nach. Sie hatte nicht gelogen! Warum nur war Tante Apollonia gekommen? Vaters Zorn verdankte sie allein dieser gehässigen alten Frau, deren verachtende Augen selbst bei der Predigt in der Kirche nicht milder wurden. Juliana schlug mit der Hand gegen die Wand. Hatte Vater diesen schrecklichen Tag gänzlich aus seinem Gedächtnis verbannt oder erinnerte er sich wahrhaftig nicht mehr daran, wie seltsam er sich gebärdet hatte? Sie bildete sich das nicht ein. Zu heftig brandete die Erinnerung an den schier unendlichen Heimweg hoch. Sogar kleine Kinder waren ermutigt worden, den Trunkenbold und seine Tochter auszulachen. Hatte Vater diese demütigenden Erlebnisse tatsächlich vergessen? Oder schämte er sich so sehr, dass er lieber tat, als wäre das nicht passiert? Dafür bezichtigte er seine eigene Tochter der Lüge? Während ihr Vater mit erhobener Stimme in Mutters Salon Gründe für das frevelhafte Benehmen seiner Tochter suchte, war ihre Seele rein.
Juliana entzündete ein Talglicht und kniete nieder. »Vergib mir, oh Herr. Ich habe gesündigt, doch ich habe nicht gelogen. Ich träume von Dario, was sich nicht gehört, deshalb lege ich all mein Vertrauen in dich. Befreie mich von diesen seltsamen Gedanken, die mein Herz gefangen nehmen. Beschütze meinen Vater vor seiner Blindheit und befreie meine Mutter von ihrer Angst, uns beide zu verlieren.«
Es dauerte bis in den Nachmittag hinein, bis sich ihr Vater endlich beruhigte. Julianas Magen knurrte inzwischen. Hatte man sie vergessen oder weitete Vater seine Strafe aus, indem er ihr das Abendbrot verweigerte? Unruhig wanderte sie durch das Halbdunkel ihrer Kammer und überlegte, ob Vaters Zorn wohl länger anhielt. Bislang hatte sie ihm kaum Anlass gegeben, über ihr Verhalten zu klagen oder sie gar zu strafen. Die kleinen Ausflüge, die sie ohne sein Wissen wagte, waren kaum der Rede wert. Seit Kurzem begehrte sie gelegentlich auf und wollte ihre eigene Meinung kundtun, wissen, was in den Straßen vor sich ging. Nicht wie ihre Cousinen den ganzen Tag Tante Apollonias Geschwätz ertragen und unsägliche Dinge tun wie Sticken, weil es der Anstand gebot.
Beim Läuten der Abendglocken hielt sie es nicht länger in der engen Kammer aus und spähte auf den Flur. Es war still im Haus. Zu still für diese Zeit. Wenn niemand mehr mit ihr über die cupola und das, was vorgefallen war, sprechen wollte, musste sie nach einem anderen Weg suchen.
Angetrieben von den zornigen Worten ihres Vaters, verspürte sie den Drang, dem capomaestro zu helfen, der von den Tiraden gegen ihn nichts ahnte. Sie wollte die cupola mit eigenen Augen sehen, irgendwann. Bis dahin musste das Modell genügen. Vielleicht gab es ein Geheimnis, das sich dahinter verbarg? Vater gelang es, Menschen für sich einzunehmen, und ebenso leicht brachte er sie gegen sich auf. Warum in Gottes Namen reagierte er so feindselig, wenn die Sprache auf Brunelleschi kam?
Ein paar Schritte später verharrte sie vor dem Arbeitszimmer ihres Vaters. Da sich niemand zeigte, der sie daran hindern konnte, trat Juliana über die Schwelle und schloss sanft die Tür. Sie wusste, dass sie unrecht tat. Es schnürte ihr den Hals zu, doch ließ man ihr eine Wahl? Sie öffnete die Schranktür und starrte auf die unzähligen dicken Bücher, die dicht an dicht aneinandergereiht waren. In Leder gebunden, unbarmherzig mit Schnüren festgezurrt, damit keines der Schicksale verloren ging. Ein Schauer lief über ihren Rücken. Spielte Vater nicht ebenso wie der capomaestro Gott? Die leicht verkohlten Pläne lagen unberührt auf dem Tisch. Unschlüssig blickte sie zur Tür, dann zu den Plänen. Die Angst, ihr Vater könne sie in seinem Arbeitszimmer überraschen, verdrängte sie. Kaum saß sie auf dem geflochtenen Gestühl, betrachtete sie gebannt die Aufzeichnungen und lächelte verzückt. Mit dem Finger fuhr sie bedacht über die Zeichnung der sanft gewölbten Kuppel, die das Dach der Santa Maria del Fiore schließen sollte. Die Pläne des capomaestro in ihren Händen! Assunita würde es nicht glauben, wenn sie ihr davon erzählte. Juliana beugte sich voller Neugier tiefer. Ein schwungvolles Kürzel bestätigte die Einträge auf ihre Richtigkeit. Kein Geringerer als Filippo Brunelleschi hatte unterzeichnet. Sogar das Emblem der Opera war deutlich auf dem Papier zu erkennen. Verblüfft bestaunte Juliana die Pläne, die mit Zahlen und Berechnungen übersät waren. Die cupola. Schwebend. Anmutig in den angesetzten Bögen aus Holz und Stein. Juliana schloss ihre Augen und stellte sich vor, wie sie vor dem Dom stand. Mit dem Kopf im Nacken die cupola betrachtend – bis die Tür aufsprang und ihr Vater vor ihr stand.
»Ich werde morgen frühzeitig in den Palazzo della Signoria gehen und Giovanni beweisen, dass ich im Recht bin«, erklärte Ferdinando wütend. Er blieb zwischen Tür und Angel stehen, was Juliana genug Zeit verschaffte, die Pläne an ihren Platz zu schieben. Bevor ihr Vater sie ertappte, sprang sie auf und schloss rasch den Schrank mit den Büchern.
Überrascht, sie hier zu finden, hob ihr Vater die buschigen Augenbrauen. »Sind alle verrückt geworden? Hinaus mit dir, und wage nie wieder, mein Arbeitszimmer zu betreten!«
Mit weichen Knien blieb Juliana vor der geschlossenen Tür stehen, in der Hoffnung, ihr Vater käme zur Vernunft und riefe sie zurück, doch nichts geschah.
»Ich werde das Modell wiedersehen«, flüsterte sie. »Und wenn ich den capomaestro selbst darum bitten muss!«
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