1 ...8 9 10 12 13 14 ...19 »Das Talglicht erlosch vor dem Schlafengehen mitten im Gebet.« Julianas Wangen glühten. Sie bemerkte die verräterischen roten Flecken auf dem Bettlaken. Und die Fußspuren zur Wand, wo sie die unverhoffte Tür zum Geheimgang entdeckt hatte. Gewiss gab es noch mehr in der Casa Serrati.
In ihrer Aufgewühltheit nach ihrem Ausflug hatte sie Darios Geschenk mit ins Bett genommen. Rasch rutschte sie über die schmutzige Stelle, um die Neugier ihrer Mutter nicht zu schüren, und ignorierte das unangenehme Drücken des Backsteins unter ihrem Gesäß. Kaum hatte ihre Mutter die Kammer verlassen, stürzte Juliana ans Fenster. Der vertraute Duft der Stadt waberte um ihre Nase. Frische Luft erfüllte die Kammer und schenkte ihr neue Hoffnung. Von Leichtigkeit erfüllt, drehte sie sich übermütig im Kreis, bis sie taumelnd auf das Bett zuwankte und hineinfiel. Sie konnte die Casa verlassen, war nicht länger Gefangene. Das Klopfen und Hämmern an der Piazza del Duomo, das in den letzten Minuten bis zu ihrem Fenster zu hören gewesen war, erfüllte sie mit Lebenslust.
*
Mit einem Lächeln betrat sie nach einer äußerst flüchtigen Morgentoilette Mutters Salon. Dort verzog sie enttäuscht den Mund. In der Mitte des Tisches stand eine geöffnete Holztruhe mit halb fertigen Stickereien.
Ihre Mutter ignorierte ihre Enttäuschung und wies auf den Stuhl zu ihrer Rechten. »Es wird Zeit, dich deinen Kunstfertigkeiten zu widmen. Dein Vater muss in einer dringenden Sache in die Signoria. Wir haben also den ganzen Tag Zeit zu reden und ich habe ein Auge auf die Fortschritte, die deiner Aussteuer zugutekommen.«
Juliana schluckte. Sollte sie ihre Mutter fragen, ob Antonio tatsächlich gewillt war, sie zu ehelichen? Was wollte er mit einer jungen Frau, die kein Interesse am Sticken zeigte und deren Herz längst vergeben war?
Von Weitem konnte man deutlich erkennen, welche Stickereien durch die geschickte Hand ihrer Mutter entstanden waren. Die kunstvoll verzierten Tücher und Deckchen machten die Casa Serrati wohnlich. Sie zeugten von der liebevollen Hand einer Frau, die es perfekt verstand, den Haushalt zu führen und ein gemütliches Heim zu gestalten. Im Gegensatz dazu die zerknüllten, halb vollendeten Tücher Julianas, die vielleicht Maria aus Sentimentalität aufbewahrte. Keinesfalls würden sie jemals einen Tisch zieren. An manchen Stellen eines vermaledeiten Tüchleins erinnerte sich Juliana sogar an die damit verbundenen Tränen. Bei Gott, sie verabscheute diese quälend langsam verrinnenden vertanen Stunden der Stickerei!
Der seltsame Traum der letzten Nacht ging ihr nicht aus dem Kopf. Schuld daran war ihr Vater. Sein Zorn trieb ihn immer tiefer ins Verderben. Er wird dafür büßen, was er mir und meiner Familie angetan hat. Dieser Satz ging ihr nicht mehr aus dem Ohr. Meinte er tatsächlich den capomaestro oder verwechselte er ihn im Zorn?
Ihre Rückkehr aus dem zufällig entdeckten Geheimgang war eine Flucht gewesen. Längst war das Talglicht in ihrer Hand erloschen, sodass sie Schritt für Schritt durch die Dunkelheit einen Weg zurück in ihre Kammer hatte finden müssen. Außer Atem und voller Angst hatte sie bis zum Morgengrauen in einer Ecke gekauert und war erst kurz vor Mutters Erscheinen mit Darios Backstein in der Hand unter die Decke geschlüpft.
Beschämt sah Juliana auf ihre Finger, während Mutter unbeirrt an ihrer Stickerei arbeitete. Nicht nur das Rot des Backsteins hatte seine Spuren hinterlassen. Staub und ein übler Geruch hingen in ihrer Nase. Der Backstein ließ sich nicht verleugnen, fürchtete sie. Er brandmarkte sie. Darum nahm sie verstohlen das größte Tuch in der Hoffnung, Mutter würde mehr auf ihre eigene Stickerei achten und nicht auf Julianas Finger. Gehorsam setzte sie sich auf den Stuhl und beobachtete die zarten Hände ihrer Mutter, die mühelos mit Nadel und Garn umgingen und Stich für Stich ein kunstvolles Muster zauberten.
»Meine Aussteuer hat keine Eile, Mutter«, sagte sie leichthin und stach mit bester Absicht die Nadel unbeholfen in den zarten Stoff. »Ich kann mir nicht vorstellen, woanders zu leben, fern dieser Stadt und überhaupt …«
Dina legte ihre Arbeit beiseite und sah ihre Tochter lächelnd an. »In meinem Herzen magst du immer mein kleiner Engel bleiben. Du bist eine junge Frau und musst deine eigenen Wege gehen.«
»Das will ich auch, doch Vater lässt mich nicht. Ich mag so gern hinaus und das Modell der cupola sehen, ohne dass Vater mich begleitet. Ich verspreche Euch, ich komme auf dem schnellsten Weg heim und sticke, bis es in ganz Florenz kein Garn mehr gibt«, beteuerte sie. »Ich schwöre bei all…« Sie brach ab, weil ihre Mutter plötzlich in Tränen ausbrach.
»Du bist wie dein Vater! Immer spielt ihr mit der Wahrheit und tut, als wäre alles in Ordnung. Die ganze Stadt hat euch verspottet?«
Juliana verstand nicht. Dann dämmerte ihr, wovon ihre Mutter sprach, und sie ließ die Stickerei jäh fallen. Was sollte sie tun? Was durfte sie sagen, ohne das seltsame Verhalten ihres Vaters zu entblößen? »Maria übertreibt. Du kennst sie ja«, erklärte sie mit gespielter Leichtigkeit. »Die Leute mussten lange warten und es hatte zu trinken gegeben.« Sie hoffte, dass ihre Mutter sich mit dieser Erklärung zufriedengab. Eilig wand sie die Stickerei in ihren Händen. »Zeigst du mir, wo ich die Fadenenden vernähen muss?« Ungewohnt wissbegierig und eifrig hielt sie ihrer Mutter das zweifelhafte Kunstwerk entgegen. In diesem Moment klopfte es an der Tür und Bernardo kündigte Besuch für die Herrin an.
Juliana, erleichtert, dem quälenden Miteinander entkommen zu sein, sprang auf. »Ich ziehe mich in meine Kammer zurück, Mutter.« Kaum hatte sie die Schwelle erreicht, blieb sie erstarrt stehen.
»Ferdinando! Ich muss mit dir reden!« Die herrische Stimme, die bis zur Galerie hinauf unüberhörbar war, gehörte ihrer zänkischen Tante Apollonia. Vaters ältere Schwester wohnte nahe dem Borgo Santi Apostoli und suchte die Familie immer dann heim, wenn diese es am wenigsten brauchen konnte.
Juliana wechselte mit ihrer Mutter einen unheilvollen Blick, dann ergaben sie sich mit vereinten Kräften ihrem Schicksal.
»Liebste Apollonia, was für eine schöne Überraschung«, begrüßte Dina ihren unerwarteten Gast mit einem so liebevollen Lächeln, dass Juliana nie eine Abneigung ihrer Mutter gegenüber der angeheirateten Schwägerin vermutet hätte.
Juliana straffte die Schultern und versuchte, es ihrer Mutter gleichzutun. »Tante Apollonia, ich freue mich über Euren Besuch.« Sie erntete nur einen abfälligen Blick.
»Ist dir die Seife ausgegangen, Dina? Wie das Kind herumläuft!« Schnaubend erreichte die füllige Witwe die Galerie und sah sich neugierig um. Das Schwarz ihrer Garderobe färbte seit Langem auf ihr Gemüt ab. Verdrossenheit und Neid beherrschten Tante Apollonias Wesen, deren Neugier sie auch heute nicht von boshaftem Spott abhielt. »Besitzt ihr keine Dienstboten mehr?« Sie zeigte vorwurfsvoll auf einen dunklen Fleck vor der Salontür.
Juliana erschrak. Sie hatte nach ihrer nächtlichen Flucht aus dem Gang vergessen, ihre Fußsohlen zu waschen.
»Gewiss, Apollonia. Sie werden dir gleich eine Erfrischung bringen nach dem weiten Weg, den du in dieser Hitze auf dich genommen hast. Warum hast du keinen Boten geschickt, um nach Ferdinando zu verlangen?«
»Vater kommt spät zurück, Tante Apollonia«, erklärte Juliana und warf ihrer Mutter einen Hilfe suchenden Blick zu.
Tante Apollonias Wangen glühten, doch Dina ließ sie zappeln.
»Wie geht es dir, liebste Apollonia? Das Wetter heute ist lähmend, findest du nicht auch?« Geschickt ließ sie ihren Fächer unter der Stickerei verschwinden, während Apollonia der Schweiß über die dicken Backen lief.
Juliana hatte verstanden. Sie öffnete kurzerhand alle Fenster im Salon, um der Hitze Einlass zu gewähren. Ihre Tante hasste die stickigen Tage des Sommers. Deshalb zog sie es vor, in Fiesole die Zeit bis Herbst zu verbringen. Lediglich der Wissensdurst über die Ereignisse der letzten Tage hatte sie von ihrer geplanten Abreise abkommen lassen.
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