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Es war Neumond und trotz eines heftigen Gewitterschauers noch schwülwarm. Die Straßenlaternen des unteren Teils der Trautenauer Straße hatten Mühe, mit ihrem Licht das dichte Laub der Alleebäume zu durchdringen.
Der schwarze Geländewagen einer deutschen Nobelmarke parkte schon seit fast zwei Stunden auf der rechten Straßenseite oberhalb des Grünewald-Gymnasiums vor dem Gittertor eines unbebauten Grundstücks. In der Dunkelheit fiel das schwarze Fahrzeug kaum auf. Das Kennzeichen war sehr verschmutzt und unleserlich. Von dieser Stelle aus hatte der dunkel gekleidete Fahrer gute Sicht auf das knapp hundert Meter entfernt gelegene Anwesen auf der anderen Straßenseite. Jetzt, kurz vor Mitternacht, war die Straße kaum befahren. Auf dem Beifahrersitz lag ein kleines Fernglas, dessen zehnfache Vergrößerung dem Mann die Vorderseite und den Vorgarten des Hauses erschloss. Alle Fenster des Hauses waren finster. Der Bewohner, der, wie der Beobachter wusste, dort allein lebte, war noch nicht nach Hause gekommen. Nach seinen Recherchen befand er sich auf einer Feier. Dennoch war der Mann, der sich zum Rächer berufen fühlte, extrem vorsichtig. Ein einziger Fehler, eine unüberlegte Handlung und sein ganzer Plan würde scheitern.
Der Mann warf einen Blick auf die handliche Sporttasche aus dunkelblauem Stoff, die auf dem Beifahrersitz lag. Sie enthielt alles, was er für sein Vorhaben benötigte. Er legte seine rechte Hand auf den festen Stoff. Als er eine leichte Bewegung im Innern spürte, huschte der Anflug eines Lächelns über sein Gesicht. Mit einem Handgriff langte er in seine Jackentasche und holte ein paar kräftige Gummihandschuhe heraus, die er sich überstreifte. Der Rächer prüfte nochmals eingehend, ob er allein auf der Straße sein würde. Dann nahm er die Tasche, öffnete die Fahrertür und stieg aus. Um das bestätigende Intervallleuchten der Blinker zu unterbinden, schloss er die Wagentür nicht mit der Fernbedienung, sondern mit dem Schlüssel ab. Dann überquerte er zügig die Fahrbahn und näherte sich dem Anwesen. Das Haus war von einer mannshohen Hecke umgeben. Der nächtliche Besucher drückte die Klinke des Gartentors herunter und trat ein. Sofort wurde er vom Schatten der hochwüchsigen Büsche aufgenommen, die den zum Hauseingang führenden Plattenweg begleiteten. An der Haustür blieb er kurz stehen und lauschte. Das Geräusch, das seine Aufmerksamkeit erregt hatte, war das kurze verschlafene Zwitschern eines Vogels, dessen Nachtschlaf er gestört haben mochte. Dann trat wieder Ruhe ein. Ein Namensschild am Türrahmen bestätigte ihm, dass er an der richtigen Adresse war.
Durch seine Recherchen wusste der Rächer, dass das Haus keine Alarmanlage besaß. Auch ein Hund, der seinen Plan hätte durchkreuzen können, war nicht vorhanden. Er griff in die Seitentasche und holte einen kleinen Gegenstand heraus, führte die zwei Stifte, die an dem Kästchen hervorragten, in das Türschloss ein und betätigte einen Schalter. Ein leises, hektisches Schnarren ertönte, dann wechselte eine Leuchtdiode auf der Oberseite des Geräts von Rot auf Grün. Mit einem kaum hörbaren Knacken ging das Schloss auf und die Tür schwang nach innen. Angespannt starrte er in den schwarzen Hausflur. Fast eine Minute lang blieb er regungslos stehen und lauschte. Beiläufig nahm er den Geruch des Hauses in sich auf: eine Mischung aus abgestandener Luft und dem Hauch eines herben Herrendufts. Schließlich trat er ein und schloss die Tür lautlos hinter sich. Im Schein seiner schwach leuchtenden Taschenlampe erkundete er den Flur. Auf der rechten Seite führte eine Steintreppe in das obere Stockwerk, gegenüber befand sich eine schmale Tür, auf der eine Comicfigur darauf hinwies, dass sich dort die Toilette befand. Danach kam die Garderobe. Gegenüber dem Hauseingang führte eine weitere Tür in die Wohnräume.
Die weichen, profillosen Sohlen seiner Sportschuhe verursachten auf dem Nadelfilz des Flures keinerlei Geräusche, als er durch die Tür trat. Wieder blieb er stehen und lauschte. Lediglich das Ticken einer Uhr unterbrach die Stille. Urplötzlich empfand der Rächer ein starkes Gefühl der Macht: Macht über dieses Haus und damit auch über seinen Bewohner. Gemächlich nahm er die Räumlichkeiten des Untergeschosses in Augenschein: Küche, Wohnzimmer, Esszimmer, daran angeschlossen eine großflächige Veranda an der Hinterseite des Hauses. Die Wohnung war ordentlich, fast pedantisch aufgeräumt. Der Lichtstrahl der kleinen Lampe fiel auf Plastiken und Bilder. Der Rächer verstand zwar nicht allzu viel davon, aber dass sie wertvoll waren, davon war er überzeugt. Er wusste, dass der Eigentümer Kunstsammler war und sich dieses Hobby auch leisten konnte. Der Mann zuckte mit den Schultern. Er war nicht hier, um sich zu bereichern. Sein Ziel war ein anderes. Ohne etwas berührt zu haben, verließ er den unteren Bereich der Wohnung, schloss die Tür hinter sich und betrat die Treppe zum oberen Stockwerk.
Hier befanden sich zwei Schlafräume und eine Bibliothek, die wohl auch als Arbeitszimmer diente. In den Regalen der Bibliothek standen Bücher über viele Meter. Auf einem massiven Eichenschreibtisch lag ein geschlossener Laptop. Zwischen den beiden Schlafräumen, von denen der kleinere offenbar als Gästezimmer genutzt wurde, befand sich ein Bad, zu dem vom größeren Schlafraum aus eine Verbindungstür führte. Durch eine weitere Tür gelangte man in einen geräumigen begehbaren Kleiderschrank. Auf der einen Seite befanden sich, farblich sortiert, Anzüge und in einem Regal gebügelte Hemden. Gegenüber in einem weiteren Regal standen zahlreiche Schuhe.
Der Rächer ging zurück in den Schlafraum und blickte eine Zeit lang auf das großflächige Doppelbett, das ebenfalls korrekt gerichtet war. Nach wenigen Minuten stand sein Plan fest. Er betrat wieder den begehbaren Kleiderschrank und setzte sich auf einen kleinen Hocker. Aus der Tasche zog er einen Elektroschocker und legte ihn neben sich. Die Tür zum Schlafraum ließ er angelehnt, so dass er Geräusche aus dem Haus gut hören konnte. Der Rächer war bereit.
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Rechtsanwalt Theodor Friedrich Seibold liebte Gesellschaft, besonders die von deutlich jüngeren Damen. Das gab ihm das Gefühl, ebenfalls jung zu sein und dem Alter trotzen zu können. Als er die Einladung zur Promotionsfeier der Tochter eines Kollegen erhalten hatte, hatte er mit Freude zugesagt, weil er sich sicher war, dort jede Menge ansprechende Weiblichkeit anzutreffen. Seibold sah man seine zweiundsechzig Jahre definitiv nicht an. Mit seinen Einmeterfünfundachtzig und der schlanken sportlichen Figur ging er locker als zehn Jahre jünger durch. Dazu kam, dass er sich in seiner Freizeit betont jugendlich kleidete. Seinen immer noch vollen Haaren half er mit etwas Tönung auf die Sprünge, damit das Dunkelblond durch keine graue Strähne beleidigt wurde. Allenfalls an den Schläfen gestattete er sich ein paar silbrige Fäden.
Die Promotionsfeier fand im Haus einer Würzburger Studentenverbindung in der Rottendorfer Straße statt. So ungefähr bis Mitternacht lief die Feier einigermaßen geordnet ab, da aber der Alkohol reichlich floss, wurden die Gäste immer ausgelassener. Die Musik dröhnte aus den geöffneten Fenstern und beschallte die Straße.
Seibold hatte einem ausgesprochen fruchtigen Riesling reichlich zugesprochen und dazwischen einige Cocktails geleert. Nachdem er sich in der letzten Stunde ausgiebig einer Jurastudentin im letzten Semester gewidmet hatte, musste er, als er von einem Toilettenbesuch zurückkam, feststellen, dass die junge Dame verschwunden war. Als irgendwann später zwei Polizeibeamte im Saal standen und nicht unfreundlich, aber sehr nachdrücklich auf einer Reduzierung des Lärms bestanden, beschloss Seibold, die Feier zu verlassen. Er kannte die Signale seines Körpers und wusste, wann er genug hatte.
Seibold verabschiedete sich von der ebenfalls betrunkenen Gastgeberin, dann trat er in die Dunkelheit hinaus. Die nächtliche Brise kühlte sein erhitztes Gesicht.
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