(d) Reorganisationszeit (ca. 1930—1960): Die relativ kurze Phase im Vorfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils rückt vor allen Dingen als Wiederanknüpfung an Grafs Konzeptionsanstöße in den Fokus. 27Die Aufbruchsphänomene am Anfang des 20. Jahrhunderts (Bibel-, Liturgie-, Jugendbewegung) und ein in Wandel geratenes Kirchenverständnis (‚mystischer Leib‘ statt Rechtsgebilde) bildeten demzufolge das Klima, in dem ein pneumatologischer Denkansatz, die Aufsprengung einer blickverengten Amtsträger-Theologie und eine ökumeneinteressierte Wissenschaftsauffassung neu aufgegriffen und transformiert werden konnte – zum Beispiel auf die „Mitverantwortung der Laien“ 28hin. Constantin Noppel (1883—1945), Linus Bopp (1887—1971) und Franz Xaver Arnold (1898—1969) treten als Hauptrepräsentanten dieses Umschwungs „[v]on der Technologie zur Theologie“ 29in Erscheinung. 30Die Überzeugung, dass das Zweite Vatikanische Konzil eine fundamentale Zäsur im Geschichtsablauf darstellt und so etwas wie das Initialgeschehen der Gegenwart bedeutet, wird nicht nur inhaltlich, 31sondern schon ganz äußerlich sichtbar: Es wird mit diesem Ereignis das nächste Kapitel aufgeschlagen. 32Eine neue Zeitrechnung fängt an.
Ein solches Phasenmodell hat den Vorteil, leicht eingängig zu sein, aber es steht auch in der Gefahr, zum eingefahrenen Raster zu werden und bei anhaltender Perpetuierung den Anschluss an verbreiterte, ausdifferenzierte oder erst dazu kommende Wissensstände zu verpassen. Das ist für die Pastoraltheologie mit Blick auf politik-, sozial- und frömmigkeitsgeschichtliche Forschungserrungenschaften besonders virulent, sofern sie Interesse an einer kritikfesten Aufarbeitung der eigenen geschichtlichen Hintergründe hat und es dann auch nicht bei der Frage belassen kann, wie Lehrbuchkonzepte aus der Vergangenheit sozusagen ‚im luftleeren Raum‘ miteinander zusammenhingen, sondern sich ein Bild davon zu machen versucht, in welchen Verbindungen diese Theorien zur pastoralen Situation insgesamt (gesellschaftliche Voraussetzungen, kirchliche Rahmenbedingungen, Lebensverhältnisse des Seelsorgepersonals u. ä.) gestanden haben. Es ist Nachholbedarf vorhanden. Die vorliegende Arbeit geht im Horizont der aufgezeigten Problematik dem Ziel nach, dem Vergessen der Geschichtsdimension und der Musealisierung ihrer Bestände entgegenzuarbeiten und Perspektiven aufzumachen, unter denen die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit im ‚langen 19. Jahrhundert‘ (Eric Hobsbawm) für ein Fachverständnis in der Gegenwart anschlussfähig gemacht werden kann und nicht in eine Verabschiedung münden muss.
Das erste Kapitel verdeutlicht die Rekonstruktion der Entwicklungen in der Pastoraltheologie selbst als geschichtlichen Zusammenhang und analysiert die zentralen Interpretationen vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Es findet in diesem Abschnitt gewissermaßen die Rezeption der Rezeption oder eine Geschichtsdarstellung auf zweiter Ebene statt. Ein Akzent liegt dabei auf der Sichtbarmachung der ekklesiologischen Vorannahmen, so dass es möglich wird, die vom kirchlichen Ort der Vertreter bestimmten ‚Färbungen‘ der Interpretationsansätze auseinander zu halten.
Das zweite Kapitel nimmt als Ergänzung zu solchen auf die Lehrbuchtradition festgelegten Herangehensweisen Sondierungen im Umfeld der Pastoraltheologie vor. Rekonstruktionen der Fachgeschichte, die das kirchliche Einbettungsszenario bzw. Settings der Seelsorge nicht berücksichtigen, müssen sich schon insofern Kritik gefallen lassen, als die Pastoraltheologen im 19. Jahrhundert ausnahmslos eine direkte Praxisbezogenheit für ihre Universitätstätigkeit in Anspruch genommen und den Standards einer zeitgemäßen Wissenschaftsform tendenziell übergeordnet haben (so genannte ‚Anleitungslehre‘). Der Blickwinkel wird in diesem Teil unter makrosozialen Aspekten (politische Situation, Strukturentwicklung der Kirche) geweitet.
Das dritte Kapitel konkretisiert die daraus gewonnenen Ergebnisse auf ausgewählte Seelsorgekontexte und existenzprägende Faktoren in Klerikerbiographien auf dem Zenit des Ultramontanismus hin. Die Eingrenzung auf die Phase von der Mitte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts lag besonders nah, weil die Geschichtsinterpreten über die in dieser Zeit entstandenen Lehrbücher mit dem Hinweis auf sowohl inhaltliche als auch methodische Fehlentwicklungen am schnellsten hinweggegangen sind. Es geht in dem Abschnitt darum, mit Einblicknahmen in die klerikale Lebenswelt Kontexte deutlich zu machen, worauf die Pastoraltheologie unter den Bedingungen des Ultramontanismus eigentlich in der Praxis ausgerichtet war – nämlich auf Seelsorger in außerordentlich ambivalenten Lebensverhältnissen – und dadurch einer differenzierteren Auseinandersetzung mit der zeitspezifischen pastoraltheologischen Literatur Material an die Hand zu geben.
Das vierte Kapitel plädiert, nicht als ob damit schon alles gesagt wäre, sondern ganz im Gegenteil, als Werbung für mehr Forschungsengagement in diesem Bereich, für ein verstärktes Wahrnehmen der Verbindungslinien zwischen abstrakt-verallgemeinernder Theoriebildung und konkret-vielgestaltiger Seelsorge- bzw. Kirchenpraxis in fachgeschichtlichen Zusammenhängen. Es ruft mit dem österreichischen Pastoraltheologen Anton Kerschbaumer (1823—1909) einen Fachvertreter ins Gedächtnis, der eine solche Vermittlung von Lehre und Leben auf eigene Art praktiziert hat und von daher ein Beispiel abgibt, dass eine ‚Charakterzeichnung‘ des Fachs in diesem Zeitraum, die darin nur Regelwerksversessenheit und seelsorglichen Uniformierungswillen sehen lassen würde, sehr viel Karikaturenhaftes an sich hätte.
Die vorliegende Arbeit stellt die Ergebnisse eines Forschungsprozesses im Bewusstsein des eigenen begrenzten Horizonts vor. Sie ist pastoraltheologisch und hat deshalb nicht die Zielsetzung, einen Diskussionsbeitrag zur (Kirchen-)Geschichtswissenschaft zu liefern, sondern umgekehrt: Sie ‚bedient sich‘ bei Analysen und Interpretationen zu historischen Quellen bzw. Entwicklungen, bündelt sie in der Fluchtlinie der verfolgten Fragestellungen und bereitet sie für die Rezeption durch die Pastoraltheologie auf.
1Vgl., um sich eine Vorstellung über die Komplexität zu machen, die schon etwas länger zurückliegenden, aber als Problemanzeige immer noch aktuellen Wegmarken Herbert Haslinger (Hg.), Handbuch Praktische Theologie, 2 Bd., Mainz 1999–2000 und in diesem Standardkompendium bes. Ders./Christiane Bundschuh-Schramm/Ottmar Fuchs [u. a.], Ouvertüre: Zu Selbstverständnis und Konzept dieser Praktischen Theologie, in: Bd. 1: Grundlegungen (1999), 19–36; außerdem die Zeitschriftenausgabe Beirat der Konferenz der deutschsprachigen Pastoraltheologinnen und Pastoraltheologen e. V. (Hg.), Pluralität im eigenen Haus. Selbstverständnisse praktischer Theologie = PthI 20 (2000) 2.
2Vgl. Haslinger/Bundschuh-Schramm/Fuchs [u. a.], Ouvertüre, 20—22.
3Vgl. ebd., 22—25.
4Vgl. Matthias Sellmann, Pastoraltheologie als ‚Angewandte Pastoralforschung‘. Thesen zur Wissenschaftstheorie der Praktischen Theologie, in: PthI 35 (2015) 2, 105—116.
5Rolf Zerfaß, Praktische Theologie als Handlungswissenschaft, in: Ferdinand Klostermann/ Ders., Praktische Theologie heute, München 1974, 164—177, hier: 167.
6Ebd.
7Vgl. Reinhard Feiter, Einführung in die Pastoraltheologie, in: Clauß Peter Sajak (Hg.), Praktische Theologie. Modul 4 (UTB; Bd. 3472), Paderborn 2012, 15—63, bes. 18–21. Der gegenwartsbetonende Aspekt im Wissenschaftsverständnis spiegelt sich prägnant in einem Lehrbuchtitel vom Anfang des 19. Jahrhunderts; vgl. Andre(as) Reichenberger, Pastoral-Anweisung nach den Bedürfnissen unsers Zeitalters, 5 Bd., Wien 1805—1808.
8Vgl. Haslinger/Bundschuh-Schramm/Fuchs [u. a.], Ouvertüre. Eine entscheidende Ausnahme ist Anton Grafs 1841 publizierter wissenschaftstheoretischer Aufriss. Die später vor allen Dingen bei Karl Rahner wieder aufgegriffenen Überlegungen nehmen unter der Formel ‚Praktische Theologie als Wissenschaft von der Selbsterbauung der Kirche‘ wichtige Elemente der nachkonziliaren Fachbestimmung vorweg, vgl. Anton Graf, Kritische Darstellung des gegenwärtigen Zustandes der Praktischen Theologie, Tübingen 1841 und die Analysen in Kap. 1.
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