Der Strafgefangene, besser gesagt: der ehemalige Strafgefangene nickte knapp. »Ich habe vor meiner Verurteilung in einem Dorf in der Nähe von Würzburg gelebt … in Obereisenheim, wenn Sie schon einmal davon gehört haben. Wie Sie aus meinen Akten ersehen können, bin ich gelernter Winzer. Ich hoffe, dass ich bei einem der Weingüter Arbeit bekomme. Im Weinberg werden immer fleißige Hände benötigt.«
»Vielleicht haben Sie auch die Möglichkeit, bei einer der Rettungsorganisationen unterzukommen«, stellte der Verwaltungsleiter fest. »Sie haben ja ihre Haftzeit genutzt und die Ausbildung zum Rettungssanitäter durchlaufen. Melden Sie sich auf jeden Fall umgehend bei Ihrem Bewährungshelfer, der wird Sie entsprechend unterstützen.« Er erhob sich.
Auch der ehemalige Strafgefangene stand auf. Das Hemd, die Jeans und die Lederjacke, die er trug, stammten aus dem Kleiderfundus der Justizvollzugsanstalt. Es handelte sich um getragene, aber noch guterhaltene Kleider, die aus Spenden stammten. Seine eigenen Kleidungsstücke, die er bei seinem Haftantritt vor zehn Jahren getragen hatte, waren schon vor langer Zeit im Müll gelandet. Sie hätten ihm auch mit Sicherheit nicht mehr gepasst.
Maybaum hatte sich im Knast nicht hängen lassen. Regelmäßig hatte er Krafttraining betrieben und in der Volleyballmannschaft gespielt. So war er über die Jahre drahtiger und schlanker geworden. Obwohl er sich schon im sechsten Jahrzehnt seines Lebens befand, war er topfit und konnte es an Körperkraft leicht mit wesentlich jüngeren Männern aufnehmen. Nur sein grauer Vollbart zeugte von seinem fortgeschrittenen Alter.
Der Verwaltungsleiter gab dem ehemaligen Häftling die Hand und begleitete ihn zur Tür. »Viel Glück, Herr Maybaum! Ich gehe mal in Ihrem Interesse davon aus, dass wir uns nicht wiedersehen werden.«
Sein Gegenüber nickte wortlos.
Die übrigen Formalitäten waren schnell erledigt. Zwanzig Minuten später öffnete sich mit einem Knarren die kleine unscheinbare Pforte, durch die der entlassene Häftling hinaus in die Freiheit schritt.
Als hätte er eine Schleuse zwischen zwei Welten durchschritten, strömte unvermittelt das pulsierende Leben der Stadt auf ihn ein. Es war ein Schock. Wie betäubt blieb er stehen.
Verkehrslärm, Kindergeschrei, das Geräusch eines Hubschrauberrotors drangen auf ihn ein. Die Vollzugsanstalt lag inmitten eines Wohngebiets.
Langsam entfernte er sich vom Tor, drehte sich um und betrachtete das Schild mit der Aufschrift Markgrafenallee 49. Eine Adresse, die sich in sein Gehirn eingebrannt hatte und die er den Rest seines Lebens nicht mehr vergessen würde.
Nach diesem letzten Blick drehte er sich um, griff die kleine Sporttasche, die seine ganze Habe enthielt, fest am Griff und lief entschlossen los. Er hatte nicht vor, auch nur einen Moment länger in dieser Stadt zu bleiben, als es nötig war.
Am Bahnhof löste er eine einfache Fahrt nach Würzburg. Wenig später saß er allein in einem Abteil der Regionalbahn. Als der Zug ruckelnd anfuhr, schloss er für einen Augenblick die Augen. Endlich, endlich war es so weit! Die rhythmisch ratternden Räder des Zuges brachten ihn Kilometer für Kilometer der Stadt näher, in der sein Unglück begonnen hatte. All die Jahre, eingeschlossen in seiner Zelle, hatte er sich ausgemalt, wie es sein würde, wenn er dorthin zurückkehren würde.
Die Stimme des Schaffners riss ihn aus seinen Gedanken. »Die Fahrscheine, bitte!«
Maybaum holte den Fahrschein aus der Tasche und ließ ihn abstempeln. Mit einem routinierten Gruß marschierte der Bahnbedienstete weiter. »Gute Reise!«
Maybaum nickte zurück, dann starrte er hinaus auf die vorbeihuschende Landschaft. Eine Welt ohne Gitter und ohne Mauern. Für einen Augenblick hatte er das Gefühl, sich in dieser ungewohnten Weite zu verlieren.
Fast genau zehn Jahre war es her, dass er vom Schwurgericht des Landgerichts Würzburg wegen Totschlags verurteilt worden war. Der vorsitzende Richter hatte ihm bei der mündlichen Urteilsbegründung gesagt, dass man die Tatsache, dass er sofort geständig gewesen war, zu seinen Gunsten bewertet hatte. Trotzdem blieb er nach seiner Verurteilung weiterhin in Untersuchungshaft. Das Schwurgericht hatte den Haftbefehl wegen bestehender Fluchtgefahr nicht aufgehoben. Bis zum Strafantritt war er in der Justizvollzugsanstalt in Würzburg geblieben, ehe er schließlich für den Strafvollzug nach Bayreuth verlegt worden war.
Er hatte sich eigentlich vorgenommen, nicht wieder in Grübeleien zu verfallen. Aber die Gespenster der Vergangenheit kamen aus ihren finsteren Löchern und drängten sich in seine Gedanken.
Er wusste, dass er seine Strafe zu Recht bekommen hatte. Allerdings hatten damals Personen und Umstände eine Rolle gespielt, von der das Gericht niemals erfahren hatte. Wäre dies der Fall gewesen, wären noch weitere in die Sache verwickelt worden. Er hatte geschwiegen und sich als Sündenbock hergegeben, weil man ihm versprochen hatte, sich um seine Familie zu kümmern. Das war dann aber nicht geschehen. Seine Familie war an dieser Verurteilung zerbrochen. Er hatte im Gefängnis gesessen und nichts dagegen tun können.
Mit finsterer Miene starrte er aus dem Fenster. Es gab mehrere Menschen in dieser Stadt, die für das alles büßen mussten. Dieser brennende Wunsch hatte ihn all die Jahre aufrechterhalten.
Als er in Würzburg den Bahnsteig betrat, schallte ihm die Lautsprecheransage entgegen: »Grüß Gott, meine Damen und Herren, willkommen in der Universitätsstadt Würzburg!«
Der Mann hob verwundert die Augenbrauen. Zehn Jahre zuvor hatte die Ansage, wenn er sich recht erinnerte, noch ganz anders geklungen. Ihm war klar, dass nicht nur er älter geworden war, sondern dass sich in der Zwischenzeit die Welt und auch Würzburg verändert hatten.
Über die Treppe und durch die Unterführung hindurch erreichte er die Bahnhofshalle. Als er sich unvermittelt in der ungewohnten Menschenmenge wiederfand, raubte ihm die Nähe der Leute für einen Augenblick fast den Atem.
Er sah zu, dass er schleunigst aus dem Strom der Reisenden herauskam. Dabei landete er vor dem Zeitungskiosk gegenüber den Fahrkartenschaltern. Spontan ging er hinein und erwarb die neueste Würzburger MAIN-POSTILLE. Von der Titelseite schrie ihm eine riesige Schlagzeile entgegen: »Würzi, der Tote im Brückenpfeiler! — Die Alte Mainbrücke als Grab eines Unbekannten«. Daneben war ein düsteres Foto abgebildet, auf dem, offenbar nur von einem schwachen Blitzlicht erhellt, die bleckenden Zähne eines Totenschädels zu erkennen waren.
Maybaum klemmte sich die Zeitung unter den Arm und verließ den Bahnhof. Nach wenigen Metern blieb er stehen und nahm den Platz wie eine Momentaufnahme in sich auf. Hier hatte sich seiner Erinnerung nach nur wenig geändert. Menschen hetzten über den Platz. Straßenbahnen bestimmten das Bild. Auf dem Rasen vor dem Kiliansbrunnen hockte eine Gruppe jugendlicher Gestalten in schwarzen Klamotten, wild gestylten Haaren, umgeben von mehreren Hunden und jeder Menge Müll. Ein befremdlicher erster Eindruck, den ihm seine Heimatstadt vermittelte.
Maybaum betrat ein kleines Stehcafé in einem der Pavillons, bestellte einen Kaffee und eine Butterbrezel, zog sich an einen der Bistrotische zurück und las interessiert den Zeitungsartikel.
Würzi, der Tote im Brückenpfeiler!
Die Alte Mainbrücke als Grab eines Unbekannten?
Der zufällige Fund eines Skeletts in einem der Brückenpfeiler der Alten Mainbrücke dürfte aus wissenschaftlicher Sicht eine echte Sensation darstellen. Denn dass es sich bei dem Toten um eine Leiche aus der grauen Vorzeit unserer Stadt handelt, steht außer Frage. Dieser einmalige Fund ist nur vergleichbar mit dem Auffinden des legendären Ötzi im Ötztal in Österreich. Was liegt näher, als den unbekannten Toten » Würzi« zu nennen? Die Frage, wie und vor allen Dingen warum dieser Mensch in den Brückenpfeiler gekommen ist, gibt zu vielen Spekulationen Anlass. Das Einmauern von Menschen als Strafe für besonders verwerfliche Taten ist für das Mittelalter historisch belegt. Bis jetzt war aber nicht bekannt, dass diese besonders grausame Hinrichtungsmethode auch in Würzburg praktiziert wurde.
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