Ein Beispiel: Angenommen, Sie stehen in einer Schlange vor einem Bankschalter. Plötzlich erhalten Sie von hinten einen Schlag auf die rechte Schulter. Auf dieses „Herangehen“, auf diese Aggression können Sie unterschiedlich reagieren. Wenn Sie den Schlag als einen Überfall erleben, reagieren Sie wahrscheinlich mit Schrecken, Angst und Panik. Erfahren Sie den Schlag als freundschaftlichen Klaps auf die Schulter und entdecken einen guten Bekannten hinter sich, den Sie lange nicht gesehen haben, stellt sich Freude und Sympathie ein. Empfinden Sie den Schlag als eine Ungeschicklichkeit und Unachtsamkeit, erleben Sie zunächst vielleicht Ärger und dann nach der Entschuldigung des anderen Wohlwollen und Verständnis. Interpretieren Sie den Schlag auf die Schulter als Unverfrorenheit und Frechheit, werden wahrscheinlich Ärger, Wut und Empörung hochkommen. Erleben Sie den Schlag als kumpelhafte Anbiederung, werden Sie vielleicht Ablehnung, Ekel und Ärger spüren. So kann dasselbe aggressive Verhalten sehr unterschiedliche Reaktionen auslösen, je nachdem wie dieser Schlag auf die Schulter empfunden und gedeutet wird.
Über den Ursprung der Aggressionen gibt es verschiedene, oft kontroverse Theorien. Alle enthalten wichtige Aspekte, die zum Ganzen einer Aggressionstheorie beitragen können. Bevor ich aber auf diese bisher bekannten unterschiedlichen Aggressionstheorien eingehe, möchte ich auf die neuesten Ergebnisse der pränatalen und perinatalen Psychologie hinweisen, die in den letzten Jahrzehnten zu einem Paradigmenwechsel geführt haben. Sie besagen, dass das Kind von der Zeugung an und vor allem in der pränatalen Zeit ein fühlendes soziales Wesen ist, das in der frühen Lebenszeit Erfahrungen macht, die seine spätere psychosoziale Entwicklung beeinflussen und im künftigen Leben Blockaden, Vermeidungen und Re-Inszenierungen auslösen können (Hildebrandt, 2015,12). Für emotionale Erfahrungen, also auch für Aggressionen, gilt: Entscheidend für den Einfluss eines Erlebnisses auf unsere psychosoziale Entwicklung ist die Möglichkeit eines Abgleichs mit einer Art Erfahrungs-Pool. Natürlich hat ein Mensch in der pränatalen und perinatalen Phase viel weniger Vergleichsmöglichkeiten in seinem Erfahrungs-Pool als ein Erwachsener, um Irritationen oder Krisen und Aggressionen einzuordnen. Hildebrandt bringt ein Beispiel: Bei der rauchenden Schwangeren geht es keineswegs nur um Gift und Gase, es geht um die erschütternde Erfahrung, dass sich das schützende und nährende System Plazenta plötzlich in ein bedrohliches, Erstickung bringendes Organ verwandelt. Damit soll nicht gesagt sein, dass Kinder rauchender Mütter prinzipiell einen seelischen Knacks hätten. Dennoch wird die Erfahrung abgespeichert und somit lebenslang Einfluss haben, und sei es nur in Form eigener Sucht. Dabei gilt der Grundsatz: Je früher das Erleben, desto geringer ist der Vergleichs-Pool, desto tiefer der Eindruck der Spur im Lebensweg. Die moderne Hirnforschung weist darauf hin, dass ganz frühe intrauterine Erfahrungen als besonders gravierend angesehen werden, weil sie wie eine Grund-Matrize, eine Art Ur-Erfahrung das Leben beeinflussen wie die Tonart einer Sinfonie. Natürlich gibt es dort immer mal wieder strahlendes Dur, aber die Grundtonart ist möglicherweise bitteres Moll (Hildebrandt, 2015,12 ff.).
Obwohl diese Ergebnisse der Hirnforschung in den nun folgenden Aggressionstheorien kaum berücksichtigt sind, können sie uns wichtige Hinweise über den Ursprung der Aggressionen geben.
Es gibt zwei Grundtheorien über die Entstehung und Auswirkung der Aggressionen. Die psychobiologische Richtung (Lorenz, Portmann sowie Freud und die Psychoanalyse) sehen die Aggressionen als angeborene und endogene Faktoren an. Dieses psychodynamische Modell nimmt den Energiebegriff der klassischen Physik auf, der besagt, dass man keine Energie einfach verschwinden lassen kann. Sie bleibt und sucht sich einen Ort. Ist dieser Ort gefüllt und kann er keine weiteren aggressiven Energien mehr aufnehmen, dann bedarf die aggressive Triebenergie eines Ventils. Die Lösung in diesem „Dampfkesselmodell“ liegt darin, dass die aggressiven Energien frühzeitig, bevor es zum „Überdruck“ mit Explosionsgefahr kommt, hinausgelassen werden auf ein anderes „Objekt“ hin, so dass sie z. B. im Sport ausgelebt werden können (Sublimierung).
Die lerntheoretische Schule gibt den Bezug auf den endogenen Trieb auf und schaut auf die äußeren Bedingungen und die Rolle des Lernens und der Erfahrung bei der Entwicklung aggressiven Verhaltens. „In der Sicht der sozialen Lerntheorie ist der Mensch weder von inneren Kräften getrieben noch hilflos von Umwelteinflüssen bedrängt. Psychologisches Funktionieren lässt sich am besten verstehen als dauernde reziproke Interaktion zwischen Verhalten und seinen kontrollierenden Bedingungen“ (Bandura, 43 f.). Auf dem Weg der Verhaltensformung ist es möglich, mit Hilfe entsprechender Belohnungs- und Bestrafungsstrategien auf dem Hintergrund von bestimmten Verhaltensmodellen einen wünschenswerten Umgang mit Aggressionen zu erlernen.
Die Frustrations-Aggressions-Hypothese (Dollard, Miller, Sears) sieht die Aggression als eine Konsequenz von Frustration. Für sie ist Aggression eigentlich reaktiv, d. h., „sie ist eine Folge der Verhinderung unmittelbarer Trieberfüllung“. Als solche ließe sich „Aggression dann auch durch Überwindung aller Frustration schaffenden äußeren Ursachen überwinden“ (Korff, 232).
W. Doise unterscheidet vier Erklärungsebenen für das bessere Verständnis menschlichen Verhaltens, die H. W. Bierhoff auf die Aggressionstheorien anwendet:
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Intraindividuelle Erklärungen: Theorien, die intrapsychische Ursachen für aggressives Verhalten heranziehen, z. B. eine hohe physiologische Erregung oder Ärger. |
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Interpersonale Erklärungen: Aggressionen entstehen aus missverständlicher Kommunikation oder unterschiedlichen Interpretationen derselben Handlungen. |
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Intergruppale Ebene: Aggressionen zwischen unterschiedlichen Gruppen oder Gruppenmitglieder sind aggressiv gegeneinander, weil sie unterschiedlichen Gruppen angehören. |
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Ideologische Ebene: „Gesellschaftliche Ideologien legen fest, welche Handlungen erlaubt oder gar erwünscht sind und begünstigen oder verhindern damit auch die Entstehung von Aggression und Gewalt“ (Bierhoff, 4 f.). |
(Ausführliche Darstellungen zu diesem Thema findet man u. a. bei Bierhoff, 2–25 und 88–106; Klessmann 1992, 36 ff.; Berkowitz, 27 ff.; Scharfenberg, 16 ff.; Kernberg, 137 ff.). In diesen Theorien zur Entstehung von Aggressionen kommt leider der positive Aspekt von Aggression als lebensfördernde und beziehungsstiftende Antriebsenergie zu kurz. Aggression wird zu einseitig destruktiv gesehen. Für uns ist es wichtig, dass alle diese Theorien wesentliche Aspekte zum besseren Verstehen von Aggression entfalten, jedoch letztlich keine von ihnen eine ganzheitliche Aggressionstheorie darstellt.
Aggressionen sind weder rein biophysikalische noch allein sozial bedingte Phänomene. „Wir sind ihnen weder hilflos ausgeliefert noch können wir sie durch geeignete Erziehungsmaßnahmen völlig aus der Welt schaffen … Aber sie sind formbar und für verschiedene Zwecke einsetzbar. Deswegen ist es von besonderer Bedeutung, die möglichen positiven und kreativen Funktionen von Ärger und Aggression ebenso zu verstehen und darzustellen wie ihre gefährlichen und destruktiven Wirkungen“ (Klessmann 1992, 60 f.).
In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, die Entstehung der lebensbehindernden und zerstörerischen Aggressionen näher zu betrachten (Besems 1980). Auf Schädigung oder Zerstörung ausgerichtete Aggressionen sind nicht der Ausgangspunkt, sondern die Folge eines Prozesses. Normalerweise liegen den Aggressionen in der Tiefe Verletzungen zugrunde, aus denen sie sich langsam entwickeln. Jede Verletzung bringt Schmerzen mit sich. Kann der Schmerz, aus welchen Gründen auch immer, nicht angemessen ausgedrückt werden, entsteht Ärger, die psychische Dimension der auf Schädigung ausgerichteten Aggression. Kann dieser Ärger keinen Ausdruck finden, so dringt er in die tieferen Schichten des Menschen ein und ruft u. a. körperliches Unwohlsein hervor, das gewöhnlich in Form der Wut zu Tage tritt. Wenn die in der Wut enthaltene Energie nicht in Bewegung gesetzt wird, entsteht die Aggression, die ein konkretes „Objekt“ sucht, woran sie sich ausagieren kann. Geschieht dies nicht, wird die Richtung der Aggression umgekehrt, gegen sich selbst, in die sogenannte Autoaggression.
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