Volker Ladenthin
Mach’s gut?
Mach’s besser!
Eine kleine Ethik
für den Alltag
Volker Ladenthin
Mach’s gut?
Mach’s besser!
Eine kleine Ethik
für den Alltag
echter
Für Aloysius Regenbrecht, in memoriam
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹ http://dnb.d-nb.de› abrufbar.
1. Auflage 2017
© 2017 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter.de
Umschlag: wunderlichundweigand.de
(Foto: Wayne0216/shutterstock)
Satz: Hain-Team ( www.hain-team.de)
eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim ( www.brocom.de)
ISBN
978-3-429-04387-2
978-3-429-04933-1 (PDF)
978-3-429-06353-5 (ePub)
„Aber der Mensch ist unabhängig und tut,
was ihm beliebt aus freiem Willen.“
Moses, in Arnold Schönberg
„Moses und Aron“ (1923/1954)
Inhalt
1. Wo ist das Problem?
2. Was sollen wir tun?
3. Wie fällen wir eine sittliche Entscheidung?
4. Gelten sittliche Prinzipien für alle Menschen?
5. Wozu brauchen wir Gesetze?
6. Muss Politik sittlich sein?
7. Wann ist die Moralität entstanden?
8. Wie passen Ethik und Religion zusammen?
9. Warum wir auch dann schon sittlich handeln, wenn wir es noch gar nicht wissen
Nachwort
Das Literaturverzeichnis
1. Wo ist das Problem?
Freitagnachmittag im Supermarkt: Alle Kassen sind geöffnet und doch haben sich sehr lange Schlangen gebildet. Und natürlich steht man mit dem vierjährigen Thomas in der falschen Schlange. „Woanders ist es immer besser!“, sagt die Frau hinter mir. Die Kassiererin schaut zu uns. Sie hat einen hochroten Kopf. Wenn Blicke töten könnten. Thomas hat derweil die Kinderschokolade entdeckt. Ich ignoriere das erst einmal. Hinter mir fragt ein junger Punk, ob man ihn nicht vorlassen könne. Er habe nur eine Flasche mit Kraftstoff. Die Kassiererin reagiert inzwischen recht laut und in dialektischer Wortwahl: „Ja, nee nicht! Ja?“ Bei einem reizenden Rentnerehepaar funktionieren weder Bank- noch Kreditkarte, Bargeld hat es nicht genug dabei. Eingescannt ist allerdings alles. Die Kassiererin muss den Einkaufswagen hinter sich deponieren. Das hält auf. Danach kommt eine elegante Dame mit Hut, die den fürchterlichsten aller fürchterlichen Sätze ausspricht: „Ich glaub, ich hab es passend!“ Es fehlen allerdings fünf Cent. Die Kassiererin verdreht die Augen. Also bezahlt die hilfsbereite Dame die 10,47 € mit dem Hunderter. „Haben Sie’s nicht noch größer? Gibt’s die 500er Scheine nicht mehr?“, kommentiert die Kassiererin. Die Mutter zwei Einkaufswagen vor mir stellt fest, dass ein Ei im Dutzend fehlt. „Können Sie denn nicht vorher aufpassen! Alt genug sind Sie doch?“, wird sie von der Kassiererin angefahren. Jetzt muss gerechnet werden: Kaufpreis durch zwölf mal elf. – „Alle Teile aufs Fließband! Alle! Euch kenn ich!“, meckert die Kassiererin die zwei rotblonden Jungs vor mir an. Und zu mir sagt sie, als ich zu all meinen Kleinigkeiten den Sechserpack mit je 1,5 Liter Mineralwasser aufs Band hieve: „Ja, hallo? Glauben Sie, ich kann das heben? Sie müssen mir schon den Strichcode zudrehen. Sonst kann ich den Preis nicht einscannen, und Sie stehen noch morgen hier.“ Ich drehe das Flaschen-Paket um, dabei reißt die Zellophanverpackung, eine Flasche fällt vom Fließband, schlägt auf und platzt. Thomas findet das recht lustig. Die Kassiererin nicht so sehr: „Ja, nee, nicht! Bezahlen Sie schon mal …“ Ich habe 24,80 € zu zahlen, lege 25 € auf den Wechselteller, sie hat das Wechselgeld schon in der Hand, und ein Azubi kommt, um den Mineralwassersee aufzuwischen, der sich um mich gebildet hat. Ich will irgendwie helfen, mit Papiertaschentüchern …: „Lassen Sie es lieber!“ So packe ich meine Sachen zusammen und gehe. Hinter mir höre ich: „Und Tschüss!“ Ich stelle beim Nachzählen fest, dass mir die Kassiererin statt der 20 Cent Wechselgeld eine Münze im Wert von 50 Cent gegeben hat. Ich drehe mich um und sehe, dass sie schon den übernächsten Kunden abfertigt und angeregt unterhält: „Ja, nee, nicht!“
Sollte ich zurückgehen? Die wartenden Kunden in der langen Schlange noch mal aufhalten? Mir noch einen Kommentar anhören? Bei dieser doch recht energischen Kassiererin? Sie auf den Irrtum hinweisen? Sie war so unfreundlich zu mir! Ach was, zu allen! Ist das professionell? Ist der Kunde nicht König? Und alles wegen 30 Cent? Aber kommt es darauf an, ob man 30 Cent unberechtigterweise kassiert oder 30 Euro oder 30 Millionen? Hängt Moral von der Größe der Summe ab? Man muss doch ehrlich sein. Macht man sich nicht sogar strafbar? Ist das sittlich? Und wie hätte ich gemeckert, wenn sie mir nur 10 Cent rausgegeben hätte! Allerdings werden nun der Kassiererin bei der Abrechnung 30 Cent fehlen, die sie bestimmt aus eigener Tasche bezahlen muss. Es sind schon Angestellte wegen solch geringfügiger Anlässe abgemahnt und sogar entlassen worden. Da kann ich nicht mittun. Und darf man sein Handeln danach richten, ob der andere einem sympathisch ist oder nicht? Was soll ich tun?
2. Was sollen wir tun?
Das ist die klassische Frage der Ethik: „Was soll ich tun?“ Das meint: Ich habe die Wahl. Was soll ich wählen?
Bevor ich eine Antwort versuche, möchte ich kurz meinen Wortgebrauch offenlegen. Denn viel Unheil ist in die Welt gekommen, weil man nicht klar sagte, wovon genau man sprechen wollte.
Ein Blick ins Wörterbuch
Moralisch, sittlich, ethisch … ist das eigentlich alles das Gleiche? Nein. Man muss die Bedeutungen unterscheiden. Dabei hilft sehr gut das „Lexikon der Ethik“ von Otfried Höffe (* 1943). Moral und moralisch bezeichnen danach die jeweils vorzufindenden Sitten, von der die Sittlichkeit zu unterscheiden ist. Mit sittlichen Urteilen werden Handlungen begründet . Sittlichkeit bezeichnet also nicht, was faktisch gilt, sondern was gültig sein soll . Ethik ist die systematische Auseinandersetzung mit dem, was sittlich gelten soll.
Allen Ernstes
Zurück zum Beginn: Beabsichtige ich allen Ernstes in solch einer banalen Situation wie jener im Supermarkt eine wissenschaftliche Ethik zu Rate zu ziehen? Fängt Ethik nicht erst bei der Frage an, ob man Kriege mit Gewalt verhindern oder Freiheit mit Bomben erzwingen darf? Ob man ein vollbesetztes Passagierflugzeug abschießen darf, wenn ein Terrorist es in ein ausverkauftes Fußballstadion steuern will? Entschieden: Nein. Sittlich relevant kann alles Handeln sein. Auch die Reaktion auf das zu viel herausgegebene Wechselgeld. Auch, wenn man der kleinen Schwester Schokolade vom Weihnachtsteller stibitzt. Ethische Regeln müssen sich in jeder Situation bewähren. Bei Schokolade und 30 Cent ebenso wie beim Einsatz der Atombombe. Warum das so ist, will ich gerne erklären. Dafür brauche ich aber die nächsten 200 Seiten. Ich werde erst einmal bei meinem Beispiel bleiben … Wenn es sehr schlicht ist, umso besser: Dann machen wir es uns nicht unnötig kompliziert. Aber Sie können selbstverständlich meine Schlussfolgerungen immer an einem umfassenden Problem passender Größe überprüfen.
Showdown
Stellen wir das Beispiel gleich mal auf die Probe. Viele meiner Freunde sagten: „In einer solch banalen Situation wie jener im Supermarkt zieht man doch keine Ethik zu Rate! Man handelt spontan, aus dem Bauch heraus. Oder aus der Hüfte. Wie beim Pistolenduell im Western. Showdown. Man wird ihr doch sofort …“
… aber kann man solch spontane Entscheidungen rechtfertigen? Aus dem Bauch heraus betrachtet, war mir die Kassiererin nicht sehr sympathisch. Da hätte ich ihr gerne für all die Demütigungen einen Dämpfer gegeben. Statt das Geld zu geben, hätte ich es ihr gern heimgezahlt! Wie sie mit der alten Dame umgegangen ist oder mit den Kindern. Aber darf man sich rächen? Kann man immer aus dem Bauch heraus handeln? Und wenn nein, wann dann nicht? Würde diese Regel gelten, dann übrigens hätte bereits die Kassiererin richtig gehandelt. Sie war schlecht gelaunt, mochte uns nicht und hat es uns allen gezeigt! Sie wäre der Innbegriff von Sittlichkeit! Prima!
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