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Eine solche Substitution brächte erhebliche Veränderungen für den Finanzsektor mit sich. Wie genau es sich verändern würde, hängt nicht zuletzt von den Reaktionen und Handlungsoptionen der Finanzinstitute und der Zentralbank ab. Klar ist, dass praktisch alle wichtigen Retail-Geschäftsbereiche der Banken dramatische Veränderungen erfahren würden. Dies gilt naturgemäß zuerst für die Rolle der Finanzdienstleister im Zahlungsverkehr; darüber hinaus für das Einlagengeschäft, bei dem die Banken gegen Retail-CBDC konkurrieren müssten. Die Art der Refinanzierung der Banken könnte sich ändern sowie auch die Refinanzierungskosten. Weiterhin wäre die Zentralbank direkt betroffen. Die geldpolitische Steuerung müsste umgestellt werden, wäre eventuell bei Retail-CBDC sogar direkter und wirkungsvoller. Die Auswirkungen auf die Finanzstabilität hängen von der neuen Bilanzstruktur der Geschäftsbanken ab. Im Falle einer Finanzkrise könnte die Existenz von Retail-CBDC allerdings einen potenziellen Bank-Run beschleunigen, da der Wechsel von Einlagen bei Geschäftsbanken zu Zentralbankgeld jederzeit und schneller möglich ist als heute mit Bargeld. Kurzum, Retail-CBDC könnte je nach Ausgestaltung umfassende Implikationen für das ganze Finanzsystem bewirken. Vor einer Einführung von Retail-CBDC müssen deshalb belastbare Analysen erfolgen. Es gilt zweierlei zu zeigen: erstens, dass und wie auch mit Retail-CBDC ein stabiles Gleichgewicht im Finanzsystem erreicht werden kann und zweitens, dass auch im Übergang von der gegenwärtigen Lage zum neuen Gleichgewicht keine unbeherrschbaren Risiken auftreten.
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Parallel zu der Frage, ob und warum Retail-CBDC eingeführt werden sollte und wie die damit verbundenen Risiken zu beherrschen sind, ist zu prüfen, wie es ausgestaltet werden müsste, um attraktiv für die Nutzung in allen denkbaren Situationen des alltäglichen Zahlungsverkehrs zu sein, ohne die Funktionsfähigkeit des Finanzsektors signifikant zu beeinträchtigen und die Aktivität der Zentralbank über Gebühr, zulasten des Wettbewerbs und Geschäftsmodells privater Anbieter, auszuweiten.31
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Daneben stellen sich viele technische Fragen der Umsetzung, die derzeit in zahlreichen Experimenten erprobt werden. Dazu gehören neben der Wahl der technischen Basis die Fragen, ob token- oder kontenbasiert, ob verzinst oder unverzinst, wenn verzinst, ob potenziell auch negativ verzinst, ob kostenlos oder gebührenpflichtig, ob frei in der Nutzung oder beschränkt, ob nur für nationale oder auch für internationale Nutzung und so weiter. Praktisch alle diese Fragen sind noch offen, ihre Implikationen nicht voll erfasst.32
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Gerade die letzte Frage einer Emission von Retail-CBDC auch für die internationale Nutzung birgt in sich große Implikationen. Emittierte eine Zentralbank Retail-CBDC, das nur von Inländern genutzt werden dürfte, wäre es de facto für internationale Transaktionen nicht nutzbar und damit sogar weniger nutzbar als Bargeld. Gerade die Wirtschaft müsste angesichts des hohen Grades der internationalen Verflechtung auf eine internationale Nutzbarkeit bestehen. Wenn allerdings auch Personen anderer Währungsräume Retail-CBDC der heimischen Währung halten und nutzen dürfen, könnte dies mutatis mutandis ganz neue Dimensionen der Währungskonkurrenz einläuten. Eine einseitige Einführung von attraktivem Retail-CBDC könnte zu einer starken Nachfrage nach heimischer Währung führen, also eine Aufwertung bewirken und die Bilanz der Zentralbank erheblich ausweiten. Ein intensiv diskutierter Aspekt ist die Frage nach Nutzungsbeschränkungen. Um die Auswirkungen auf den Finanzsektor gering zu halten, könnte man Nutzungsbeschränkungen einführen, sodass beispielsweise die Bürger nur eine bestimmte Summe an Retail-CBDC halten dürfen und darüber hinausgehende Beträge schlechter verzinst würden. Solche Nutzungsbeschränkungen sind denkbar.33 Sie erinnern jedoch eher an ein stärker technokratisches Verständnis von Finanzen. Geld, dessen Nutzung in sich komplex ausgestaltet ist, dürfte zusätzliche Friktionen und Kosten verursachen, die wohlfahrtsmindernd wirken.
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Die Beantwortung der Fragen zur Ausgestaltung wird erschwert durch die unklare Zielformulierung, ob es eher um Bargeldsubstitution, um Programmierbarkeit, um Tokenisierung, um P2P-Transaktionen, um Vollgeld oder um andere Ziele geht. Je nachdem, welches Ziel konkret mit CBDC erreicht werden soll, müssten andere Gestaltungsoptionen gewählt werden. Daher muss die Frage des „Wie“ der Frage des „Warum“ untergeordnet werden.
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Konkret gibt es zwar eine Handvoll Retail-CBDC-Pilotprojekte, aber noch keine einheitliche Sicht auf die Gestaltungsvariationen.34 Realisiert ist der Retail-CBDC allein auf den Bahamas mit dem Sand Dollar.35 Die dortige Zentralbank verfolgt, ähnlich wie die Eastern Caribbean Central Bank mit einem ebenfalls sehr weit fortgeschrittenen Projekt,36 das Ziel einer besseren Anbindung der heimischen Wirtschaft, die über viele kleine Inseln verstreut ist, an das internationale Finanzsystem. Unter den größeren Währungsräumen ragt das Pilotprojekt der People’s Bank of China (PBoC) heraus.37 Seit 2014 arbeitet eine Arbeitsgruppe der PBoC zusammen mit Experten des Privatsektors an einer digitalen Variante des Yuan. Ziel ist die vollständige Digitalisierung des Zahlungsverkehrs, die eine leichtere Überwachung und Steuerung des Finanzsektors und der gesamten Wirtschaft ermöglicht. Ziel sollte die Einführung zu den Olympischen Winterspielen im Jahr 2022 in Peking sein. Die lange Entwicklungsphase trotz intensiver kombiniert staatlich-privater Bemühungen weist auf die hohe Komplexität der praktischen Umsetzung von Retail-CBDC hin.
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Der bestehende Geldkreislauf ist eine Infrastruktur, die gemeinsam von öffentlichen und privaten Institutionen betrieben wird. Dabei beschränken sich die Zentralbanken mehr oder weniger auf den von ihnen als hoheitlich definierten Bereich. Eine neue Geldform könnte auch neue Infrastrukturen erfordern, sodass einige Rollen neu zu definieren sind, einige möglicherweise entfallen könnten und teilweise auch andere Rollen entstehen werden.
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Dezentrale Netzwerke sind anders strukturiert als das bisherige Finanzsystem mit Intermediären und zentral organisierten Finanzmarktinfrastrukturen. Allerdings entwickeln sich auch die dezentralen Netzwerke weiter. Mit den Weiterentwicklungen der DLT durch anwendungsorientierte Konsortien wie R3 oder durch Softwareunternehmen wird die rein dezentrale Struktur zugunsten von Hierarchien und funktionalen Differenzierungen zunehmend aufgelöst. In einer einfachen Variante kann man bereits fünf verschiedene Rollen im Netzwerk definieren: Betreiber des Netzwerkes, Emittent von Assets, Verwahrer von Assets, Produzent von Produkten, Beobachter.38 Die ursprüngliche Idee, dass dezentrale Netzwerke eine reine P2P-Welt ohne jegliche Finanzintermediäre ermöglichen, wird vermutlich in der Reinform nicht umsetzbar sein. Gleichwohl werden zahlreiche Geschäftsprozesse sich verändern und neue entstehen, sodass auch bisherige funktionale Rollen entfallen können.
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Das bisherige Verhältnis zwischen öffentlichem Sektor und Privatsektor im Zahlungsverkehr könnte sich, insbesondere durch die Emission von Retail-CBDC, erheblich in Richtung einer Ausweitung der Rolle der Zentralbanken verschieben. Damit einher gingen vermutlich auch größere Risiken in der Zentralbankbilanz, die entsprechend abgesichert werden müssten. Hinzu kommen Implikationen für andere politische Ziele, etwa für die Umsetzung der Geldpolitik, für die Finanzstabilität oder, bei etwaigen Fehlfunktionen, Ausfällen oder Leistungseinschränkungen, für die Reputation der Zentralbanken.
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Für die konkrete Infrastruktur für Retail-CBDC werden drei Varianten diskutiert.39 Erstens, ein einstufiges Modell, in dem die Zentralbank ein Netzwerk betreibt, an dem alle Wirtschaftssubjekte teilnehmen können. Dieses „Direct CBDC“ genannte Modell brächte den größten Aufgabenzuwachs für die Zentralbank. Das möglicherweise größere Vertrauen der Bürger in staatlich betriebene Systeme würde möglicherweise kompensiert durch die zu erwartende geringe Innovativität staatlicher Strukturen. Zudem erweisen sich private Anbieter in der Regel als überlegen bei der Gestaltung von nutzerfreundlichen Dienstleistungen. Deshalb wird, zweitens, auch „Hybrid CBDC“ diskutiert. Dabei entstünde eine zweistufige Architektur, bei der die Zentralbank eine Rückfalllösung betreibt, die Nutzer aber auf Systemen privater Anbieter Retail-CBDC als Forderungen gegen die Zentralbank transferieren können. In einer dritten Variante, „Intermediated CBDC“ genannt, betriebe die Zentralbank nur ein System für die Finanzdienstleister. Unternehmen und Privatkunden wären auf privat betriebene Systeme angewiesen. Auch dort würden Token transferiert, die Forderungen an die Zentralbank repräsentieren. Andere Lösungen, bei denen Geschäftsbanken Token herausgeben, die durch Zentralbankgeld besichert sind, werden allgemein nicht als CBDC interpretiert und fallen daher unter digitales Geschäftsbankengeld.
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