Mehrsprachigkeiten an sich sind kein Grund für Schulerfolg oder -misserfolg. Der sogenannte Migrationshintergrund ist keine aussagekräftige Kategorie, haben doch gewisse migrierte Einwohner*innen der Schweiz sogar einen durchschnittlich besseren Schulerfolg als die einheimische Bevölkerung. Erst in Kombination mit der sozialen Schicht können Mehrsprachigkeiten Misserfolg in der Schule erklären (Khan 2018, S. 386–399). Daher sind Lehrende, auch wenn kein sprachliches Fach im Vordergrund steht, angehalten, mit der Dimension der Mehrsprachigkeiten bewusst und gezielt umzugehen.
Mehrsprachigkeiten sind die Norm und nicht eine Störung des Unterrichts. Diese Haltung von Lehrpersonen ist produktiv für den Unterricht (Khan 2018, S. 406–429). Mehrsprachigkeiten zu akzeptieren, zu berücksichtigen, sie als Chance wahrzunehmen und auch didaktisch zu verwenden, dazu bedarf es viel Übung. Hier können persönliche Überzeugungen und subjektive Theorien das Unterrichtsgeschehen behindern. Etwa: Wenn die Volksschule das nicht geschafft hat, dann die Berufsbildung erst recht nicht. Zentral ist die Überzeugung der Lehrenden – wie immer beim Unterrichten –, dass Menschen lernen wollen und aus verschiedenen Kontexten und Perspektiven heraus unterschiedlich lernen. Zu dieser Haltung gehört auch ein offener Blick auf die vorhandenen sprachlichen und kulturellen Ressourcen. Wir plädieren dafür, dass diese Haltung professionell unterfüttert wird mit didaktischem Know-how zu Scaffolding, Arbeit mit Textsorten, effektivem Sprachenlernen sowie Kenntnissen über Besonderheiten der deutschen Sprache allgemein und der Bildungssprache (vgl. Schader 2012). Auf diese Weise nähern sich Lehrende dem Ziel, Sprachförderung in jedem Fach, jeder Lehrveranstaltung und jedem Seminar zu betreiben.
Der Spracherwerb, das Sprachlernen ist weder auf der Sekundarstufe II noch auf der Hochschulstufe abgeschlossen. Ab Sekundarstufe II beginnt die Sprachentwicklung hin auf elaboriertes Leseverstehen, materialgestütztes Schreiben sowie angemessene mündliche und schriftliche Sprache in bestimmten Berufen und Disziplinen. Gerade in Naturwissenschaften ist die Studiensprache ganz oder teilweise Englisch. Auch diese Form des Englischen muss eingeübt werden, sind doch die Gepflogenheiten wissenschaftlichen Schreibens auf Englisch andere als auf Deutsch (vgl. Sieber 1994 sowie Jörissen/Verhein in diesem Band).
Berufslernende und Studierende sind nicht grenzenlos fähig, mit eigenen Mehrsprachigkeiten umzugehen. Es ist Aufgabe der Lehrenden und der Bildungsinstitutionen, sie dabei aktiv zu unterstützen. Entwicklungspsychologisch gesehen, verhindern Pubertät und Adoleszenz als Phasen der Identitätsbildung aufgrund der oben dargestellten sozialen Bedingungen tendenziell, dass junge Menschen souverän mit ihrer mehrsprachigen Identität umgehen. In der Adoleszenz – und auch später – vermeiden es Menschen besonders in formellen Settings, auf persönliche Hintergründe hinzuweisen, die nicht der Norm entsprechen. Sie gehen bewusst oder unbewusst davon aus, dass offener Umgang mit Mehrsprachigkeiten dem Selbstwert, ihrem Ansehen und der Karriere schaden kann (Honegger/Sieber 2013). Wenn sie lernen, dass Mehrsprachigkeiten in einem formellen Umfeld (Beruf, Schule) negativ konnotiert werden, verstecken sie sie. Dies gilt besonders für sozial markierte Sprachen wie jamaikanisches Patois oder für «uninteressante» Sprachen wie Tigrinya – wobei in beiden Fällen (heute noch) die Hautfarbe dem Aufgehen im Mainstream einen Riegel vorschiebt. Bilaterale Bildungssettings (vgl. Thomann/Honegger/Suter 2016) würden einen bewussten Umgang mit der Situation des «anders und gleichzeitig nicht anders sein Wollens» ermöglichen und auch generell Vielfalten in der Bildung berücksichtigen können.
4 Aufbau des Bandes
Teil A, Mehrsprachige Praxis und Übergänge
Teil A bietet differenzierte Blicke auf die Sprachenvielfalten in der schulischen Praxis und an den Stufenübergängen, welche die hohe Komplexität, die hier berücksichtigt werden muss, offenbaren:
Afra Sturm zeigt das Konzept der Enkulturation auf, in das sie die Arbeit mit Feedback integriert, die für Lernen immer zentral ist. Insbesondere stellt sie dar, wie inhaltliche und prozessuale Aspekte des Modellierens den Spracherwerb aller Lernenden gleichermassen unterstützen.
Inwiefern erfassen Übertrittsprüfungen in die Sekundarstufe II tatsächlich diejenigen Kompetenzen, die bei mehrsprachigen Jugendlichen für Bildungs- und Berufserfolg relevant sind? Dies diskutieren Mathias Müller und Anja Winkler. Als Basis dienen ihnen ihre schweizweiten Untersuchungen zu Übertrittsprüfungen in die gymnasiale Sekundarstufe II.
Kirsten Schindlers Beitrag verdeutlicht die sprachlichen Realitäten, die Lehramtsstudierende zu bewältigen haben. Sie verwendet dazu das Modell der Mehrstimmigkeiten, das unterschiedliche Sprachverwendung in diversen Rollen (Studierende, Praktika als Lehrperson) im Studium erfasst und reflektiert.
Sandra Buchmann und Nadine Vetterli beleuchten in ihren praxisorientierten Essays mögliche Realitäten im Unterricht mit mehrsprachigen Lernenden an Berufsfachschulen. Sie zeigen auf, wie Berufslernende je nach Lebenskontext sprachlos werden, nicht am (Unterrichts-)Geschehen teilnehmen und nicht lernen können. Weiter weisen sie auf Ansätze hin, mit denen diese «kontextuelle» Sprachlosigkeit aufgelöst werden kann.
Teil B, Sprachlernen aus der Perspektive der Lehrenden
Dieser Teil bietet Werkzeuge für didaktisches Handeln, das beim Sprachenlernen unterstützt. Die Frage, wie und ob mehrere Sprachen in Individuen eine gegenseitige positive oder negative Transferwirkung erzeugen, lässt sich noch nicht beantworten: Der Forschungsstand zeigt zwar Korrelationen auf, jedoch lassen sich die konkreten Wirkungen einzelner didaktischer Massnahmen bis anhin evidenzbasiert nicht nachweisen (Lambelet u. a. 2020; Berthele/Lambelet 2018).
Saskia Sterel und Manfred Pfiffner erläutern das Lese-Diagnose-Tool «Judit» für mehrsprachige Lernende der Sekundarstufe II. Sie informieren über die didaktische Basis und den Aufbau von «Judit» und formulieren Implikationen für dessen didaktische Langzeitwirkung.
Das Scaffolding und inwiefern es beim Lernen auf Sekundarstufe II sowie auch mit Studierenden eingesetzt werden kann, präsentiert Alex Rickert. Er hat dafür den aktuellen Stand des Wissens anhand eines konkreten Beispiels von wissenschaftlichem Schreiben aufgearbeitet.
Einen Prozess, der auch mehrsprachige Studierende bei ihren Abschlussarbeiten im Studium fördert, stellen Stefan Jörissen und Eva Buff Keller dar. Sie zeigen, wie diese komplexe Situation, in der Lernen, Beraten und Beurteilen zu kombinieren sind, produktiv gestaltet werden kann.
Teil C, didaktische Anlagen innerhalb von Curricula
Beatrice Müller fokussiert die Chancengerechtigkeit im Studium und stellt ein Tutoring-/Mentoring-Programm vor, in dem durch Einzelberatungen mehrsprachige Studierende und Lernende begleitet werden.
Stefan Jörissen und Annette Verhein Jarren beleuchten, wie Studierende beim Schreiben im Studium fördernd begleitet werden können und dass dies ohne gezielte curriculare Einbindung nur in Ansätzen möglich ist.
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