Natürlich gehört in der Praxis viel Größe dazu, generell zu akzeptieren, dass verschiedene Menschen, Kulturen und Länder hier, vollkommen berechtigt, verschiedene Ansichten haben. Daher möchte ich auch gleich klarstellen, dass ich nicht glaube, dass meine oder die europäische Sichtweise objektiv korrekt ist, es ist nur eine Sichtweise von vielen. Diese Sichtweise ist aber genauso legitim und ist genauso zu respektieren wie jede andere. In einer demokratischen Struktur bedeutet das vor allem auch, dass es nicht mal unbedingt eine wissenschaftliche Wahrheit für diese Position braucht. Sie legitimiert sich allein über ihre allgemeine Akzeptanz oder die Mehrheitsfähigkeit. Das Ganze gilt natürlich auch für abweichende Meinungen.
Das Spannende im Internet ist nun aber, dass Gruppen, für die Privatsphäre wichtig ist, im gleichen Raum auf Gruppen treffen, die das überhaupt nicht so sehen und auch nicht unbedingt verstehen können. So gelten im Silicon Valley die Europäer mit ihrem Datenschutz für viele als vollkommen absurde Truppe. Sowas wie ein Grundrecht auf Datenschutz, wie es in der EU vorgesehen ist, kennt man dort schlichtweg nicht. Nur bei wenigen Menschen, die beim Thema Datenschutz besonders kritisch sind, gilt die EU als schillerndes Vorbild. Zu einem großen Teil wird die Idee von Privatsphäre im Netzzeitalter dort aber wie gesagt als verträumt, falsch, überkommen und jedenfalls für die Unternehmen als lästig gesehen.
Aus irgendwelchen hehren Gründen auf möglichen Profit zu verzichten ist innerhalb des liberalen Wirtschaftsverständnisses nur schwer erklärbar. Das wäre ja wie staatliche Gesundheitsversorgung für alle. Sowas kann ja auch nur den Kommunisten einfallen, würden viele ätzen.
Neben der Frage der Anerkennung von Privatsphäre an sich, kommt man hier auch zu einem zweiten Phänomen: In Europa gibt es einen viel stärkeren Drang, die armen, kleinen Konsumenten, Arbeitnehmer oder Mieter zu schützen. In den USA gibt es hingegen eine Tendenz, die Übermacht des Stärkeren als gerechten Lohn für dessen Arbeit und Kraft zu sehen. Wer sich nicht durchsetzt, hat eben verloren. Der Wilde Westen lässt grüßen, aber an sich ist diese Grundhaltung ebenso legitim wie das europäische Beschützertum.
Die Einführung von Datenschutz ist so gesehen auch nur ein logischer Schritt nach dem Arbeitnehmer- oder Konsumentenschutz. Datenschutz ist nichts anderes als der Schutz der Bürger vor den übermächtigen Unternehmen und Staaten, nur eben im digitalen Informationszeitalter. Das Ziel, das damit verfolgt wird, ist, dass der Konsument nicht informationell ausgebeutet werden soll, ebenso wie Kreditnehmer, Mieter oder Arbeitnehmer nicht finanziell oder persönlich ausgebeutet werden sollen.
Der Schönheitsfehler im europäischen Konzept ist jedoch, dass die USA den weltweiten Markt für IT-Produkte massiv dominieren. Mit wenigen Ausnahmen haben US-Unternehmen die Software unserer Geräte nach ihren Vorstellungen gemacht. Unter dem Schlagwort »Code is Law« (die Software ist das Gesetz) gilt damit auch auf unseren Geräten faktisch die amerikanische Idee von Privatsphäre und Grundrechtsschutz. Die IT-Industrie arbeitet extrem schnell und will, wenn möglich, ein Produkt mit wenig Aufwand in kürzester Zeit auf der ganzen Welt verkaufen. Anpassungen an das Recht von etwas mehr als 190 Staaten der Erde sind da nicht vorgesehen und schon gar nicht erwünscht.
Die IT-Unternehmen gehen eher mit dem »Friss Vogel oder stirb« Prinzip durch die Welt, und das funktioniert recht gut. Was für andere Branchen unmöglich wäre, ist in der IT-Sparte total normal. Oder könnten Sie sich vorstellen, dass ein europäisches Auto in den USA eine Zulassung bekommen würde, ohne unzähligen US-Standards zu entsprechen? Oder, dass jemand in den USA einfach so Kaffee verkaufen könnte, ohne diesen mit unzähligen Warnhinweisen von »Achtung, heiß!« bis zu »Kaffee kann krebserregend sein!« zu verschönern? Das wäre unmöglich.
Wenn es sich aber um die Produkte handelt, in denen unsere gesamte Kommunikation, alle unsere Unterlagen, alle unsere Interessen und unser halbes Leben verarbeitet oder oft auch überwacht werden, gelten lokale Gesetze plötzlich nicht. Wenn es nach den Herstellern geht, sollten hier, unter Ausblendung des Rests der Welt, nur die Gesetze und die Kultur eines Teils der Welt gelten. Das Traurige dabei: Wir sehen diesem Geschehen zu und tun nicht mehr, als uns verbal zu empören, um dann erleichtert ein Bier trinken zu gehen.
Aus Ihren Verhandlungen um Ihr Gehalt, Ihren Auftrag oder Ihren Job wissen Sie: Information ist Macht. Wer weiß, wo die roten Linien des Verhandlungspartners, die Interessen, die internen Abmachungen und Zwänge sind, hat schon fast gewonnen. Das Gleiche gilt natürlich auch in der Politik und der Diplomatie. Kein Wunder also, dass die NSA die Telefone ausländischer Regierungschefs und eventuell auch der EU-Behörden abgehört hat.
Diese Macht lässt sich natürlich noch viel intensiver nutzen. Man kann beinhart erpresst werden, mit Informationen. Letztes Jahr bei der Steuer etwas gedreht? Dem Partner untreu gewesen? Hinter dem Rücken des Partners sich mal so richtig ausgelassen? Oder eher peinliche Vorlieben? Wer Ihre kleinen oder großen Geheimnisse kennt, hat Sie vielleicht in der Hand. Auch hier gilt ganz klar: Information ist Macht.
Alltäglicher als die Überwachung der NSA und Erpressungen sind aber die kleinen Informationsgefälle, die wir täglich erleben. Wir wissen nicht, wann die Fluggesellschaft die Preise steigen oder fallen lässt, ob es morgen auch noch Tickets für ein Konzert gibt und ob wir besser jetzt oder erst in ein paar Wochen ein Hotel buchen sollen. Wir ärgern uns, wenn sofort nachdem wir etwas gekauft haben plötzlich ein Sonderangebot kommt. Hier fehlt uns einfach die nötige Information. Wie beim Poker wissen wir nicht, welche Karten unser Gegenüber in der Hand hat und welche Strategie er verfolgt.
Den Unternehmen geht es generell auch nicht anders, sie wissen nicht, was in Ihrem Kopf passiert. Sie sind aber drauf und dran, genau dieses Gleichgewicht des Unwissens massiv zu ihren Gunsten zu ändern. Unternehmen haben immer mehr Informationen über uns. Das Blatt in unserer Hand beim täglichen Poker wird also immer transparenter. Sie können uns je nach den aufgezeichneten Interessen, unserem Wohnort oder sogar dem Computer, den wir nutzen, ein individualisiertes Angebot machen. Es lässt sich errechnen, dass Kunde A eher mehr zahlt, Kunde B aber nur bei einem guten Preis kauft. Für Apple-Nutzer wird es dann leicht etwas teurer, denn die Anhänger des Apfel-Kults sind ja bekannt dafür, auch gern mal etwas mehr zu zahlen. Je nach Datenbestand wird uns ein Angebot gemacht, billigere oder bessere Angebote werden gegebenenfalls ausgeblendet.
Airlines arbeiten beispielsweise derzeit daran, Flugpreise erst nach der Anmeldung des Kunden individuell zu berechnen. Wenn Sie also immer am Montag berufsbedingt von A nach B fliegen müssen, zahlen Sie dann eben etwas mehr, während der Student neben Ihnen das gleiche Ticket für den halben Preis bekommt. Die Information, dass Sie zwingend diesen Flug buchen werden, bringt der Airline große Verhandlungsmacht und Sie in eine missliche Lage. Dafür muss die Airline nur Ihren Namen aus den Passagierlisten des vergangenen Jahres abrufen und die betreffenden Informationen mit Ihrer Anfrage kombinieren. Der Rest ist banale Statistik. Ob die Airlines das durchziehen, wird man sehen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis andere Branchen auf ähnliche Ideen kommen.
Natürlich kann auch der einfache Schneider am Eck Ihre Löcher für etwas mehr Geld stopfen, wenn er den Eindruck hat, Sie haben das Geld und brauchen die Hose dringend. Ich setze gegenüber meinem ägyptischen Schneider immer den Dackelblick auf und lege noch mal mit »Ich bin doch Student, das kann ich mir nicht leisten« nach. Am Ende der Diskussion bekommt man den guten Mann jeweils um die Hälfte runter, wenn er wieder für 10 Minuten Arbeit 10 Euro haben will, ohne Rechnung versteht sich. Der Schneider und ich haben aber die gleichen Verhandlungspositionen. Wir pokern und bluffen. Ich weiß genauso wenig, ob sein Leidklagen über seine hohen Kosten einfach nur orientalische Übertreibung ist, wie er nicht weiß, wie viel der Student denn wirklich grad in der Geldtasche hat. Am Ende trifft man sich in der Mitte, alle sind glücklich. Das funktioniert aber nicht mehr, wenn der Kunde die Hosen runterlässt, bevor er verhandelt.
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