Ich hatte das Glück, zwei Mal, während meiner Schulzeit und während meines Studiums, in den USA zu leben. Dabei lernte ich zwei Welten kennen: den tief gläubigen und sehr konservativen Süden und das krasse Gegenteil im Silicon Valley. Natürlich prägte das auch meine Gedanken. Die dort gesammelten Erfahrungen dienen für mich auch oft als Referenz, wenn wir über Europa sprechen. Erst wenn man die eigene Welt in Perspektive setzt, kommt man vielen Dingen näher. Man lernt ebenso viel über sich selbst und seine eigene Kultur, wie über die fremde Kultur. Aber natürlich beginnt man, auch die USA von innen zu verstehen. Erst wenn man hier hinter die Kulissen einer anderen Kultur sehen konnte, lassen sich viele Dinge genauer einordnen und benennen.
Auf die Unterschiede zwischen diesen beiden Systemen einzugehen, ist essenziell. Unter der Oberfläche brodeln viele Missverständnisse, andere Konzepte, andere Ansichten und daraus entstehende Spannungsverhältnisse. In Europa nutzen wir das regelmäßig, um uns erhaben zurückzulehnen, die vermeintliche moralische Überlegenheit des alten Kontinents genüsslich zu zelebrieren und in antiamerikanistische Schablonen zu verfallen. Es zeigt sich so viel leichter mit dem Finger auf andere als sich selbst kritisch zu betrachten und etwas zu tun. Der NSA Skandal war bezeichnend: Die Aufregung über die USA wurde zelebriert, aber ähnliche Systeme in der EU verkamen eher zur Randnotiz. Man spielte bewusst oder unbewusst das alte Spiel vom äußeren Feind, anstatt auch vor der eigenen Türe zu kehren.
Weder die kritiklose Verherrlichung von allem, was über den großen Teich kommt, noch die generelle Ablehnung sind aber sinnvoll. Schnödes Pro-/Anti-USA, also reines Schwarz-Weiß, macht zwar gute Schlagzeilen, ändert aber nichts. Wir müssen uns gegenseitig verstehen, kooperieren, andere Ansichten akzeptieren und einen Modus finden, der für beide Seiten gangbar ist, um in einem weltumspannenden Netz, bei weltweit verbreiteter Technologie und bei weltweiten Produkten einen gemeinsamen Nenner zu finden.
3. Zur Großartigkeit der IT-Industrie
Wenn Sie lesen wollten, welche tollen Möglichkeiten uns das Internet und alle möglichen technischen Errungenschaften bieten, hätten Sie vermutlich nicht dieses Buch gekauft, sondern zu den Ergüssen von diversen IT-Koryphäen gegriffen. Oder sie hätten vielleicht die Verkaufszahlen einer der Biographien der Silicon Valley-Prominenz gesteigert, also von jenen Menschenfreunden, die uns gnadenhalber erlauben, ihre Produkte zu kaufen, um dann wie Halbgötter gefeiert zu werden. Trotzdem muss ich zuallererst klarstellen, dass die digitale Revolution ohne Frage unser Leben unglaublich erleichtert und befreit.
Es ist leider ratsam, diese positive Seite als Datenschützer immer erst mal festzuhalten. Personen, die sich mit Datenschutz beschäftigen, dürfen ja nach der Vorstellung vieler nur aus der Schublade jener Spielverderber rauskriechen, die unsere Freude an Innovationen und funkelnden Produkten verderben. Dass Menschen gleichzeitig Spaß an neuen Technologien haben können und trotzdem ihre Bedenken äußern, bringt leider immer noch das Weltbild von vielen durcheinander. Man kann ja, nach dem Glauben mancher, nur für oder gegen etwas sein. Blanke Ablehnung wäre natürlich relativ sinnlos. Es geht daher nie darum, »böse« Technologie zu bekämpfen, sondern tolle Entwicklungen gemeinsam in eine für die Allgemeinheit sinnvolle Richtung zu lenken.
Für mich hat sich also nie die Frage gestellt, ob diese Dinge an sich gut oder böse sind, sondern wie wir sie gestalten. Daher war für mich auch klar, dass ich Facebook, Twitter oder Google weiter nutze, auch wenn das regelmäßig für massive Verwirrung bei Journalisten gesorgt hat. Aber die Situation ist eben etwas zu vielschichtig für eine einfache Schwarz-Weiß-Geschichte.
Natürlich ist es überhaupt keine neue Erkenntnis, dass wir Neuerungen nicht verhindern, sondern lenken sollten. Bei jeder größeren Veränderung mussten wir als Gesellschaft neu festlegen, unter welchen Bedingungen wir Innovationen haben wollten. Nach der Industrialisierung haben wir festgestellt, dass beispielsweise Arbeitnehmerschutz unumgänglich ist, damit die Gesellschaft auch mit einer damals neuen Arbeiterklasse weiter funktioniert. Immer massivere Eingriffe in die Natur machten irgendwann klar, dass wir Umweltschutz brauchen, um zumindest die extremsten Auswüchse einzudämmen. Kaum gab es Autos, mussten wir uns überlegen, wie wir den Verkehr regeln, damit nicht nur jeder ein Auto hat, sondern damit auch möglichst sicher und schnell ans Ziel kommt. Diese Liste ließe sich endlos fortsetzen. Sobald ersichtlich wurde, dass neue Entwicklungen einen echten Mehrwert bringen, ging es also nie um das ob, sondern immer um das wie.
Wenn nun die Digitalisierung jeden Teil unseres Lebens durchdringt und diese Technologie eindeutig viel mehr kann als sie vielleicht soll, so wird klar, dass auch hier Regelungsbedarf besteht. Nicht weil man diese Entwicklung verhindern müsste, sondern weil wir sie zum Nutzen aller gestalten sollten. Es geht um Vertrauen, um Fairness und die Balance von Interessen. Wie weit lassen wir uns von Technologien, Konzernen und Innovationen verändern, und wie weit ordnen wir uns diesen unter? Wer bekommt wie viel vom neu entstehenden Kuchen? Stupides Ablehnen oder Verherrlichen von Innovationen ist zwar viel einfacher als eine echte differenzierte Auseinandersetzung damit, so leicht können wir es uns aber nicht machen. Wir müssen vielmehr die Konflikte erkennen und sie nach Möglichkeit im Interesse aller lösen.
Da Sie aber kein Buch über die Großartigkeit diverser Innovationen gekauft haben, darf ich im Weiteren auf die Selbstinszenierungen der Konzerne verweisen. Die können das auch viel besser. Ich empfehle überhaupt, nach jedem Kapitel dieses Buches ein Werbevideo für das neueste Handy oder einen neuen Online-Dienst anzusehen, um nicht ganz die positiven Seiten auszublenden. Ich kann Ihnen jedoch nicht garantieren, dass Sie nicht einen gewissen Zynismus verspüren, wenn Sie diesen Rat befolgen sollten. Die neueste Selbstinszenierung eines IT-Konzerns mag nach einem Kapitel über die Vorgänge hinter den Kulissen wie ein mit Antibiotika verseuchtes Käfighuhn nach einem Tierschutzfilm schmecken. Trotzdem Mahlzeit!
Nachdem ich mich also (hoffentlich erfolgreich) von jedem Verdacht der Verweigerungshaltung reingewaschen habe, würde ich nun gerne die Frage »Neue Technologie: Ja oder Nein« verlassen und in das »Ja, aber wie?« eintauchen, denn genau diese Diskussion ist wirklich spannend.
Ich gehe mal davon aus, dass ich Sie als Leser dieses Buches nicht überzeugen muss, dass Privatsphäre doch etwas wert ist. Wenn sie Ihnen nichts wert wäre, würden Sie jetzt vermutlich eher einen Krimi oder eine Liebesgeschichte lesen. Ich hoffe, wir können uns daher lange Ausschweifungen über den prinzipiellen Wert der Privatheit sparen. Gemeinsam offene Türen einzurennen ist ja für uns beide vermutlich eher minder spannend. Trotzdem gibt es einige Elemente, Hintergründe und Gedanken, die auch für bereits Überzeugte interessant sein könnten.
4. Nazis oder Kommunisten?
»Hallo? Ist da Europa gegen Facebook?«
»Ja, hallo!«
»Großartig. Ich bin von der New York Times und würde gerne über euch schreiben. Haben Sie ein paar Minuten?«
»Sicher, gerne. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Also, zu Beginn wollte ich fragen, warum in Europa Privatsphäre so wichtig ist. Ähm, … ist das wegen der Nazis oder wegen der Kommunisten?«
So ähnlich fing zirka jedes zweite Interview zu unserem Facebook-Verfahren mit Journalisten aus den USA an. Warum sind diese Europäer so paranoid? Gut, dass die Überwachung durch den Staat eingedämmt werden muss, das kann man als Amerikaner ja noch verstehen: Der Staat ist böse. Aber private Unternehmen sind ja schlussendlich dafür da, möglichst aus allem Profit zu schlagen. Was haben diese Europäer also mit ihrem komischen Datenschutz?
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