Die Heldin unseres Buchs ist eine fiktive Person, die all das erlebt, was entweder wir oder jemand aus dem Kreis der Neurochirurginnen und Neurochirurgen, die wir persönlich kennen, erlebt hat. In die Person fließen demnach Geschichten und Erlebnisse ein, die einer von uns oder einem der vielen Neurochirurgen in Österreich, Deutschland und der Schweiz widerfahren sind.
Das bedeutet, dass alles in diesem Buch (leider) auf Begebenheiten beruht, die sich tatsächlich zugetragen haben. Wir haben aus Gründen des Datenschutzes allerdings Namen, zeitliche Abläufe, geografische Hinweise und medizinische Details so verändert, dass der Rückschluss auf bestimmte neurochirurgische Abteilungen oder dort tätige Neurochirurginnen und Neurochirurgen unmöglich ist.
Denn darum geht es ja schließlich nicht. Sie werden nie erfahren, welche Patienten völlig umsonst Pflegefälle geworden sind, welcher Neurochirurg seine Mitarbeiter vergiftet hat, wer während der Operation in den Mülleimer gekotzt hat und wer so überspannt war, dass er seinen Ehemann misshandelt hat. Es ist ja auch völlig egal. Es geht ja nur darum, dass Leute dazu gebracht werden, diese Dinge zu tun.
Es geht uns darum, ein groteskes, kaputtes medizinisches System zu zeigen, indem wir sein wahrscheinlich exponiertestes Fachgebiet ausleuchten.
Es steht außer Zweifel, dass es noch immer hervorragende Neurochirurgen gibt, die im Dienste der Medizin, der Idee des Heilens und damit im Dienste ihrer Patienten handeln. Doch der Allgemeinzustand in diesem Bereich ist so katastrophal geworden, dass es sich für uns beinahe schon wie ein Verstoß gegen den hippokratischen Eid anfühlen würde, dieses Buch nicht zu veröffentlichen. Wir haben schon lange begriffen, dass die Entwicklungen in die falsche Richtung laufen, dass sich das System, statt sich zu verbessern, immer weiter pervertiert. Und wir haben unsere Konsequenzen gezogen.
Eine von uns wechselte das Fach und arbeitet jetzt als Ärztin an einem Psychiatrischen Krankenhaus. Die andere ist weiterhin Neurochirurgin. Dies aber in Frankreich, einem Land, dessen Gesundheitssystem sehr wohl auf die Interessen der Patienten zugeschnitten ist, und das geistesgestörte Ärzte österreichischer oder deutscher Neurochirurgien an die Psychiatrie verweisen würde. Nicht als Ärzte, sondern als Patienten.
Es ist uns natürlich völlig klar, dass uns alle Neurochirurgen als Nestbeschmutzerinnen beschimpfen werden. Das müssen sie auch, denn sie sind ja alle mundtot gemacht in diesem kranken System. Aber nur tote Fische schwimmen mit dem Strom. Deshalb nehmen wir das in Kauf. Es ist uns eigentlich sogar scheißegal. Wir sind sicher keine Nestbeschmutzerinnen, denn wir hatten nie ein Nest. Wir hatten immer nur Schlangengruben.
Freunde haben uns gewarnt, dass wir nie mehr wieder an einer deutschsprachigen Neurochirurgie arbeiten werden können, nach diesem Buch. Aber so einen Job, den brauchen wir ungefähr so dringend, wie ein Loch im Kopf. Denn, das haben wir inzwischen erkannt, Geld darf auf keinen Fall unter Blut und Tränen verdient werden. Und wir würden daher eher in ein Kernkraftwerk putzen gehen, als noch einmal an einer Neurochirurgie in Österreich oder Deutschland zu arbeiten.
Dr. Marion Reddy,
Dr. Iris Zachenhofer,
Oktober 2014
Da gibt es diesen angesehenen amerikanischen Neurochirurgen Frank Vertosick. Kein Neurochirurg würde zugeben, seine Bücher gelesen zu haben. Denn der schreibt nicht nur spannend und aufschlussreich über Patienten und Operationen. Er befasst sich auch kritisch mit dem Fach selbst. Er charakterisiert seine Protagonisten so treffend, dass sich jeder Neurochirurg, dem es an Selbstironie mangelt, und das ist bei neunundneunzig Prozent von ihnen der Fall, geschmäht fühlen muss. Vertosick beschreibt die Neurochirurgen als die Looser in der Kindheit, die, die immer geprügelt und am Spielplatz verarscht wurden. Die, die in der Highschool später die pickligen Idioten waren, die nie eine Freundin oder auch nur ein Date hatten. Die Weicheier, die Warmduscher, die Beckenrandschwimmer, die Streber. Erst nach einigen Jahren Misere in der Neurochirurgie habe ich begonnen, die Psychopathologie dieser Leute zu verstehen. Meine Psychiaterin hat mir viel erklärt. Diese ständigen Kränkungen in der Kindheit haben aus sehr vielen von ihnen Narzissten unterschiedlicher Ausprägung gemacht. Narzissmus ist eine der charakterlichen Grundstrukturen der Neurochirurgen. An dieser Spezies Mensch können wir allerdings auch große Anteile der gesamten Psychiatrie studieren.
Neurochirurgen nehmen ihre Umwelt einfach nicht wahr. Sie schreiten über sie hinweg. Jeder Neurochirurg muss der Beste sein. Er interessiert sich nie für andere Fächer. Er könnte nie Pathologe oder Urologe sein. Das wäre für ihn zu wenig Prestige. Er muss Hirnchirurg sein. Zur Not käme noch Herzchirurg infrage, aber Hirnchirurg ist besser. Den Schädel eines Menschen zu öffnen, der sich ihm ganz und gar anvertraut, und darin etwas zu tun, hat etwas Gottgleiches. Das trifft sich perfekt mit der Selbstwahrnehmung eines Neurochirurgen.
Der Neurochirurg glaubt an das Image seines Faches. Ein Eingriff in den Schädel, das klingt ja schon so interessant, und es hat auch etwas mit Nervenkitzel zu tun. Dazu kommt der Kick des Risikos, das Spiel mit den Schicksalen, die sich unter den eigenen Händen entscheiden. Das Gehirn ist mit Abstand das komplizierteste Organ, und wer einmal die topographischen Bilder des Gehirns, Bilder der Funktionsfelder und des Gefäßsystems gesehen hat, kann die Komplexität nur erahnen. Dazu kommt, dass das Nervengewebe sich nicht regenerieren kann. Dadurch ist es, wenn es einmal angekratzt ist, gleich immer irreparabel geschädigt, und der betreffende Patient kann nicht mehr sprechen oder ist vollkommen gelähmt. Das Gehirn ist nun einmal extrem fragil.
Die schwierigsten Fälle, die kompliziertesten Eingriffe und die längsten Operationen sind dem Neurochirurgen gerade gut genug, um sich zu beweisen und glänzen zu können. Der Neurochirurg sieht Patienten als Mittel zu diesem Zweck. Den Zugang vieler Ärzte, anderen Menschen helfen zu wollen, kennt er nicht. Ihn interessiert neben seiner Karriere im bestenfalls noch die Krankheit, aber sicher nicht der Mensch, der sie hat. Wenn sich ein Neurochirurg karenzieren lässt und unentgeltlich zum Beispiel in Vietnam operiert, dann ist das garantiert auch wieder nur eine Prestigesache. Auf Facebook zeigt er sich dann umgeben von lachenden, ehrerbietenden Kindern. Er darf dort den ganzen Tag operieren was er will, muss sich mit niemandem um die Operationen streiten und kriegt dabei Fälle zu sehen, die er in Europa in diesen Ausprägungen niemals vor das Mikroskop bekäme. Ein Paradies.
Die Bilder von den Fehlbildungen und Tumoren zeigt er dann bei internationalen Kongressen an der Riesenleinwand. Darum geht es ja, um die geilen Operationen, um die Ausbeute. Die vietnamesischen Patienten sind ihm ja in Wirklichkeit ebenso scheißegal, wie die in Europa. Und dann zeigt er noch haufenweise Bilder von sich selbst, dem kleinen, widerlichen, neurochirurgischen Fettsack, neben den dankbaren Kindern und Eltern. Ich könnte heute noch kotzen, wenn ich nur daran denke.
Alle anderen Neurochirurgen sieht er als Konkurrenten, denen er im Prinzip Operationen nur dann zugesteht, wenn er persönlich gerade nicht Dienst oder keine Zeit hat, weil er einen wichtigeren und prestigeträchtigeren Fall operiert.
Die Gedankengänge dabei sind simpel. Arzt ist schon mal super, denkt er sich, und inskribiert nach dem Schulabschluss Medizin. Unter den ärztlichen Berufen findet er Hirnchirurg richtig geil, weil das am meisten Prestige bringt, also entscheidet er sich dafür. Mit welcher Lebensqualität das einhergeht und welche Kollegen er kriegt, ist ihm egal. Das Defizit in seiner Persönlichkeit ist groß genug, um das alles in Kauf zu nehmen.
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