»Identität?«
»Männlich, um die 30, liegt wahrscheinlich schon die halbe Nacht hier.«
»Hatte er Papiere dabei?«
»Das hätte ich längst gesagt.«
Petersen stemmt sich hoch, klopft Schneereste von seinem Überzug, dazu stampft er auf den Boden.
»Kannst du das nicht draußen machen?«, fragt Hartenfels, dem wässriger Matsch auf den Laptop gespritzt ist.
»Draußen schneit es«, erwidert Petersen und öffnet die Tür.
»Hast du sonst noch Spuren gefunden?«, hakt Hartenfels nach.
»Draußen schneit es«, wiederholt Petersen und lächelt.
Es ist ein aufrichtiges Lächeln, das sein ganzes Gesicht erstrahlen lässt. Hartenfels kennt dieses Lächeln. Es ist typisch für Petersen, wenn er nicht weiterweiß. Es passt zu ihm, dass er Fragen interessanter findet als Antworten. Manchmal macht Petersen alle verrückt.
Hartenfels steht ebenfalls auf, wobei er das Foto von Meisters Freundin vom Tisch nimmt.
»Ich höre mal, ob es etwas Neues gibt, Sie warten bitte hier«, sagt er, was Zerberus missversteht.
Der Hund springt auf und stößt sich gewaltig den Kopf an der Tischplatte, scheint es jedoch nicht zu merken.
»Bleib«, zischt Meister und Hartenfels staunt über den eisigen Ton.
Zerberus rollt sich ganz klein zusammen.
Draußen steht Petersen und wartet.
»Keine Reaktion«, sagt er.
Hartenfels nickt. Meister hat sich gut gehalten. Er spricht sowieso nur das Nötigste. Kann Taktik sein oder es ist seine Art, sie werden sehen. Das ist erst der Anfang, mit Meister werden sie in den folgenden Tagen sicher viel Zeit verbringen.
»Meinst du wirklich, er hat Spuren verwischt?«, fragt Hartenfels.
»Falls ja, dann gründlich.«
»Wieso?«
»Das Gesicht des Toten wurde abgewischt und die Hände ebenfalls. Wahrscheinlich hat Meister sogar den Kopf angehoben und dabei die Wunde berührt. Um festzustellen, ob jemand noch lebt, ist das ein ganz schöner Aufwand.«
»Gib das mal weiter«, sagt Hartenfels und drückt Petersen das Foto von Evelyn Köhler in die Hand, »und dann bis später.« Er dreht sich um und läuft die Wiese hoch. Was Petersen gesagt hat, muss er erst einmal verdauen.
Während Hartenfels sich durch den Schnee kämpft und ab und zu eine kurze Pause macht, um zu verschnaufen, merkt er, dass die Lage sich ziemlich verändert hat. Neben den zwei Polizeifahrzeugen sind mehrere Mannschaftswagen abgestellt, und auf halber Höhe der Wiese stehen Dutzende Beamte in einer langen Reihe, die bereit sind, in alle Richtungen auszuschwärmen. Noch arbeitet die KTU und hat keine Freigabe erteilt. Hartenfels entdeckt Reschke, die mit ihrer Kamera hantiert, und ein Zelt, das den Fundort der Leiche gegen den stetig fallenden Schnee abschirmt. Stimmen dringen an sein Ohr, die Geräusche sind gedämpft, Reschke bemerkt ihn und macht sich an den Abstieg.
»Ich bin fertig, Chef«, sagt sie, als sie ihn erreicht hat, und verkündet, dass sie zwecks Bildbearbeitung zurück ins LKA will.
Hartenfels weiß, dass sie sich Mühe geben wird, den Toten so lebensnah wie möglich abzubilden. Reschke ist eine Künstlerin auf ihrem Gebiet und kommt selbst mit entstellenden Verletzungen zurecht.
Hartenfels informiert Reschke, dass Petersen ein Foto der vermissten Frau hat, und lässt sie ziehen, bloß den Wagen, der vor dem Viktoriapark steht, möchte er behalten. Er will unbedingt noch zu Meister nach Hause. Reschke ist das egal, es sind genug Kollegen vor Ort, irgendjemand wird sie sicher mitnehmen.
Nachdem das Gespräch beendet ist und Hartenfels sich wieder dem Fundort der Leiche zuwendet, sieht er, dass der Zinksarg schon bereitsteht und soeben angehoben wird. Überall ist der Schnee zertrampelt, Spuren, die sich rasch unter neuen Flocken verlieren.
Das sind denkbar schlechte Bedingungen, um eine verschwundene Person zu suchen, denkt Hartenfels, gibt aber trotzdem das Zeichen.
Die KTU ist fertig und die Beamten, die sich in einer Reihe aufgestellt haben, marschieren los. Hartenfels hört Kommandos, die von schlechtem Funkkontakt zerhackt sind, beobachtet, wie der Sarg zum Transport verstaut wird.
In den Obduktionssaal zu Petersen, geht ihm durch den Kopf, und er bekommt eine Gänsehaut.
Hartenfels bleibt noch ein paar Minuten stehen, Schnee fällt und fällt. Irgendwann ist die Suchmannschaft hinter dem Denkmal auf der Spitze des Bergs verschwunden, und es wird so still, als wäre nichts geschehen.
Meister sitzt mit seinem Hund im Polizeifahrzeug und sieht aus dem Fenster, ohne seine Umgebung wahrzunehmen, so versunken ist er in seine Gedanken. Er geht Optionen durch. Für Hartenfels. Wie lange wird er überleben? Wann bringt er ihn um? Meister macht das oft, wenn er jemand kennenlernt. Als Schriftsteller hat er Macht über seine Figuren. Es kann aber auch vorkommen, dass eine Figur ein Eigenleben entwickelt und Forderungen stellt. Meister überlegt, ob Hartenfels so eine Figur sein könnte. Hat Hartenfels das Zeug zum Helden?
Meister schüttelt den Kopf und blinzelt. Dazu ist er viel zu dick. Außerdem hat Hartenfels etwas Somnambules, schien gar nicht gemerkt zu haben, dass es schneit. Meister denkt an die aufgeweichten Halbschuhe und die durchnässte Lederjacke. Dann lächelt er, weil ihm Peter Falk einfällt. Bei Peter Falk war alles Tarnung. Er tat nur so, als wäre er zerstreut. In Wahrheit arbeitete Falks Verstand wie ein Uhrwerk. So gut kennt er Hartenfels nicht, kann sich jedoch vorstellen, ihm etwas ähnlich Doppelbödiges zu geben. In Meisters neuem Romanzyklus fehlt ein überzeugender Schurke.
Schurken sind schwieriger als Helden, findet er.
Noch einmal denkt er an Hartenfels’ kahl rasierten Schädel, seine riesigen Hände und die fleischige Nase. Meister fragt sich, ob Hartenfels bloß fett ist oder ob mehr dahintersteckt. Auf jeden Fall hat sich Hartenfels markante Züge bewahrt, was eindeutig gegen Adipositas spricht. Er hat kein zweites Kinn, seine Gesichtskontur ist scharf gezeichnet. Außerdem haben Dicke oft Augen, die wie Rosinen im Fleisch stecken, findet Meister, so eingesunken und klein wie sie sind. Hartenfels’ Augen sind groß und leuchtend Blau. Wahrscheinlich ist er ein ernst zu nehmender Gegner. Meister stellt sich einen Sumoringer vor, der statt des üblichen Ballonschädels Hartenfels’ Züge trägt, und pfeift durch die Zähne.
Nicht schlecht, denkt er.
Meister stützt seinen Kopf in die rechte Hand und legt ihn schräg, unter dem Tisch gähnt Zerberus geräuschvoll. Weil Meister Fantasy schreibt, stattet er Hartenfels mit Schwert und Dolch aus, auch eine Kopfbedeckung könnte Wunder wirken. Meister legt die Stirn in Falten. Was soll er tun, um den Fiesling aus Hartenfels hervorzukitzeln? Steckt überhaupt ein Fiesling in ihm? Meister versucht, sich Hartenfels’ Gesicht vorzustellen, wenn es sich vor Wut und Ärger verzerrt. Irgendwie will es ihm nicht gelingen. Hartenfels scheint eher der Typ »Buddha« zu sein, von unerschütterlicher Ruhe. Aber das kann täuschen.
Meister reibt sich das Kinn. Der Mann ist wirklich schwierig einzuschätzen.
Ganz anders als der kleine Gerichtsmediziner, mit dem er weggegangen ist, denkt Meister.
Petersen ist der aalglatte Typ, akkurat, penibel und eingebildet. Für so eine Figur gibt es immer eine Nische. Spion, Zuträger, Intrigant sind die passenden Oberbegriffe. Und obwohl Petersen schmal und schlank ist, hat er genau die Augen, die eigentlich zu Hartenfels gehören: tief in ihren Höhlen liegende kleine schwarze Murmeln.
Vielleicht sollte ich beide Figuren vermischen, überlegt Meister. Doch dann kommt ihm eine andere Idee. Was wäre, wenn er den Kommissar und den Rechtsmediziner als Paar konzipierte? Zusammen könnten sie wirklich diabolisch sein, denkt er, allein eher nicht.
Hartenfels fehlt die nötige Verschlagenheit und Petersen ist für sich genommen ein Witz. Aber als Duo infernale? Meister sieht einen zwergenhaften Mann, der seinem Herrn Pläne einflüstert, die so schwarz sind wie die Nacht.
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