»Ach, wissen Sie: Die Arbeit bleibt, auch wenn er mich verlassen hat.« In dem Tonfall klang der Satz allerdings weniger traurig als bitter. Als hätte sich ihr Mann bereits lange zuvor von ihr getrennt.
»Sie werden verstehen, dass ich versuche, mir ein Bild von Ihrem gemeinsamen Leben zu machen. Nur auf diese Weise finde ich Anhaltspunkte, die mir helfen, das Tötungsdelikt aufzuklären. Das hat nichts mit Verdacht oder Anschuldigung zu tun. Das ist meine Arbeit als Ermittlerin«, sagte Hella.
Die Witwe sah sie verblüfft an, offenbar hatte sie nicht erwartet, dass sich die Polizei die Zeit nehmen würde, ihre Arbeit zu erklären, und es schien ihr zu imponieren. »Was möchten Sie denn wissen?«, gab sie grünes Licht.
»Sie werden zugeben, dass es verwundert, wenn ausgerechnet Sie als die Person, die Ihrem Mann am Nächsten stand, nichts von seinem Doppelleben wusste. Er musste doch viele Stunden nachts unterwegs gewesen sein. Roch er nicht nach Farbe oder Lack nach diesen Touren?«
»Nein, ich habe nie etwas bemerkt. Vielleicht weil ich keinen Grund hatte, etwas Derartiges zu vermuten. Ich wollte auch nicht …« Sie stockte.
»Sie meinen, es hat Sie nicht interessiert, was Ihr Mann mit seiner Freizeit anfing?«
»Vielleicht …«, erwiderte Désirée Jelinski kühl.
»Hatten Sie ein gemeinsames Schlafzimmer?«
Den Unmut über die indiskrete Frage hatte die Witwe schnell beiseitegewischt, aber sie wirkte zunehmend nervös. Offenbar fühlte sie sich eingekreist und ihr wurde mehr und mehr bewusst, dass jede Antwort genau abgewogen wurde.
»Nein, aber das heißt noch nicht … Viele Ehepaare schlafen aus unterschiedlichen Gründen getrennt.«
»Es bedeutet nur, dass Sie kaum wissen konnten, ob Ihr Mann nachts in seinem Bett schlief oder nicht.« Das bestätigte die Aussage von Désirée Jelinski. Ihre Aufgeregtheit legte sich wieder.
»Wie lange waren Sie verheiratet?«
»Sechsundzwanzig Jahre.«
»Waren Sie glücklich in dieser Ehe?« Die Frage rückte näher an die heran, die sich in den meisten Fällen im Zusammenhang mit langjährigen Ehen aufdrängte: Wer ging fremd?
»Ja, das waren wir«, antwortete die Witwe ohne lange Überlegung.
Bitte erspare mir das gleiche Spiel wie in der Gerichtsmedizin, dachte Hella. Den Gedanken hatte Désirée Jelinski offenbar von ihrem Gesicht abgelesen. Sie schluckte, und ihr Teint verfärbte sich rosa. »Am Anfang hatten wir wunderbare Jahre«, begann sie, und dass sie die Erinnerung nicht kaltließ, bewies das leise Zittern in ihrer Stimme. »Wir lernten uns auf einer Museumstagung kennen und verhielten uns anfangs wie Hund und Katze. Er hatte bei Diskussionen eine arrogante Art an sich, die mich abstieß, andererseits auch wieder anzog. Ein auftrumpfend selbstbewusster, fesselnder Redner, der nicht nur hohles Geschwätz von sich gab, sondern die Tiefe mancher Kunstwerke in Worte fassen konnte wie kein Zweiter …«
»Sie haben ihn bewundert?«
»Ja, das kann man sagen. Wir zogen uns gegenseitig an und wohnten in derselben Stadt …«
»Worauf Sie sich näherkamen und schließlich heirateten und beide Karriere machten?«
»Wie Sie sagen. Bernhard war nicht nur fachlich hervorragend, er war auch ein unvergleichlicher Kommunikator und knüpfte Kontakte in alle Kreise. Das hat ihm schließlich seine erste Assistentenstelle in München beschert, und er schaffte es, sich immer weiter nach vorn zu arbeiten. Dadurch half er auch mir.«
»Und wie stand es um Ihre privaten Pläne, Familie und so weiter?«
»Wir hatten damals kaum Zeit, darüber nachzudenken, denn auch ich machte meinen Doktor und war als Hilfswissenschaftlerin voll eingespannt …«
»Dachten Sie nie an Kinder?« Hier zögerte die Professorin mit ihrer Antwort.
»Doch, doch … aber dann wechselte Bernhard die Stelle und musste sich einarbeiten, und ich kämpfte um meine erste Professur.«
»Blieb neben den ehrgeizigen Plänen überhaupt noch genug Zeit für Ihre Ehe?«
»Ich gebe zu, darüber hätten wir früher nachdenken sollen …« In ihren Gesichtsausdruck mischte sich Bedauern, vielleicht sogar Schuldgefühle.
»Und das hatte Folgen …«
»Wie meinen Sie das?«, schnappte Désirée Jelinski plötzlich. Offenbar hatte es wehgetan. Hella ignorierte die Reaktion und sprach weiter in dem beruhigenden Tonfall: »Wenn man sich selten sieht, kann es zur Entfremdung kommen, das ist nicht ungewöhnlich.« Die Witwe musste selbst abwägen, ob sie mehr Details, vielleicht auch demütigende, preisgab, niemand konnte sie dazu zwingen.
»Sie werden es ohnehin herausfinden«, gab sie schließlich nach. »Ja, er nahm hin und wieder mit, was sich ihm anbot. Die Frauen himmelten ihn an. Er konnte sie sich aussuchen. Beim ersten Mal kam er noch reumütig mit einem Blumenstrauß und schwor mir, dass es ein Ausrutscher gewesen sei …«
»Aber Ihrer Ehe hat das offenbar keinen Abbruch getan. Haben Sie nicht darunter gelitten?«
»Damals schon, aber ich wollte nur ihn, er war mein Mann, meine große Liebe. Irgendwo verstand ich ihn sogar. Wenn man einem Hund immer wieder eine Wurst vor die Schnauze hält, schnappt er früher oder später zu, auch wenn er nicht soll. Außerdem waren wir ein gut eingespieltes Team, und als Museumsdirektor brauchte er mich als Partnerin, die ihre Rolle kannte.«
Irma, die Haushälterin, erschien mit einem Tablett in der Hand und brachte Kaffee und Gebäck, wobei das Geschirr so merkwürdig klapperte, als sie es vor Hella auf den Tisch stellte. Offenbar war Irma nachtragend. Das machte sie in Hellas Augen eher sympathisch. Sie mochte Menschen mit Charakter.
»Doch irgendwann verliert eine solche Ehe ihren Sinn, oder?«, fragte sie, nachdem die Haushälterin sich zurückgezogen hatte.
»Zwischendurch gab es immer wieder schöne Momente. Zugegeben, mit der Zeit wurden sie immer seltener, aber wir hatten viele gemeinsame Interessen und ergänzten uns. Seine Affären dauerten selten länger als ein, zwei Monate. Ich lernte, damit umzugehen.«
Auf einmal klang ihre Stimme kalt, selbstbeherrscht. Anscheinend war sie aus der Erinnerung wieder aufgetaucht. »Es tut mir leid, Frau … Budde, aber ich habe noch einiges zu tun. Wenn Sie für heute keine Fragen mehr haben …«
Hella erhob sich, sie hatte mehr erfahren als erwartet. »Ich danke Ihnen für die Offenheit, aber bitte halten Sie sich weiter zu unserer Verfügung.«
Auf dem Weg in die Altstadt spulte Hella die Befragung in ihrem Kopf noch einmal ab. Désirée Jelinski hatte unter den wechselnden Liebschaften ihres Mannes gelitten, war aber bei ihm geblieben. Angeblich hatte sie gelernt, damit umzugehen, das hieß auch, die Eifersucht zu kontrollieren. Trotzdem fragte sie sich, wie die attraktive Frau es über so viele Jahre ertragen konnte, ständig zurückgesetzt und gedemütigt zu werden von dem Mann, den sie über alles liebte und für den sie immer da war. Ihr Verhalten erklärte sich jedenfalls aus dem, was sie sagte. Désirée Jelinski war gewohnt, dass ihr Mann fremdging, und wollte gar nicht genau wissen, was er mit seiner Freizeit anstellte, um sich selbst nicht mehr als nötig zu verletzen. Selbst dass sie angeblich nichts von der zweiten Identität ihres Mannes als Straßenherz wusste, war nachvollziehbar. Im Nachhinein musste es sie tief getroffen haben zu erfahren, dass sie auch als Vertrauensperson keine Rolle mehr gespielt hatte. Deshalb ihr verstocktes Verhalten in der Gerichtsmedizin.
»Wenn er bei Frauen so viel Erfolg hatte wie in seinem Beruf, dann gab es nicht nur für Désirée Jelinski Gründe zur Eifersucht«, folgerte Kai Fischbach, der wieder an seinem Platz vor dem Bistro am Kohlmarkt saß und den Tauben gelegentlich kleine Stücke seines Thunfisch-Baguettes gönnte.
»Ganz recht, Kai. Was könnte das für uns bedeuten?« Hella schenkte ihm ein aufforderndes Lächeln, während sie überlegte, was sie von der Speisekarte bestellen sollte.
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