Friederike Gräff
Schlaf. 100 Seiten
Reclam
Für mehr Informationen zur 100-Seiten-Reihe:
www.reclam.de/100Seiten
2019 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: nach einem Konzept von zero-media.net
Infografiken: Infographics Group GmbH
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2019
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961467-0
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020530-3
www.reclam.de
Schlaf – ein bedrohtes Chamäleon
Mich hat das Thema Schlaf lange nur am Rande beschäftigt, in Momenten, in denen der agilste meiner Brüder über mein Dasein als Langschläferin herzog. Er selbst schläft nur sechs Stunden, und es ist ihm immer noch unverständlich, warum ich auch nach acht Stunden noch müde sein kann. Genau betrachtet ist es ihm nicht unverständlich. Mein Schlafbedürfnis passt in seinen Augen zu meinem vermeintlichen Mangel an Agilität und Zielgerichtetheit.
Man könnte meine Familie auch anhand ihres Schlafes porträtieren: Zum einen sind da meine Eltern, die den janusköpfigen Schlaf des Alters schlafen, selbst überrascht, wie sehr sich das Schlafen mit dem Lebensalter verändern kann. Meine Mutter, die Schlafmittel nimmt, um den Herausforderungen des Tages ins Auge zu sehen und die Dämonen der Nacht zu bannen. Ein Bruder, der täglich im Morgengrauen zur Arbeit fahren muss und bei Familienfesten heimlich verschwindet, bis man merkt, dass er sich zum Schlafen in den Keller geflüchtet hat. Ein Onkel, der verkörperte Energie war, nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt ist und mit einer gewissen Überraschung zu mir sagt: »Ich habe mit 91 Jahren festgestellt, dass man tagsüber schlafen kann.« – »Darf ich es auch?«, frage ich ihn, ermüdet von den Nachtschichten an diesem Text. »Nein«, sagt er. Eine 92-jährige Tante, die ich abends anrufe und die voller Kummer sagt, dass sie jetzt nicht mehr telefonieren kann, da ihre Pflegerin sie nun ins Bett bringt, weil sie Feierabend haben will.
Im Schlafenden treffen sich individuelle und gesellschaftliche Prägung, und letztere ist fast so hartnäckig wie das, was in unseren Körper eingeschrieben ist. Schlaf als notwendiges Übel beziehungsweise Luxus, den man sich nur in möglichst knapper Dosis erlaubt: das ist eine Sichtweise, die sich jahrhundertelang in der Erziehung europäischer und auch japanischer Kinder durchgesetzt hat. Wie wir schlafen, ist aber auch ein Gradmesser unserer Autonomie und unserer sozialen Stellung. Erwachsensein, das bedeutet auch, selbst bestimmen zu können, wann man schläft – anders als Kinder und, wenn sie es schlecht treffen, alte Menschen. Prekär zu schlafen, das ist das Los der Schichtarbeiterinnen und Schichtarbeiter, derer also, die spät in der Nacht ihren Dienst an Tankstellen oder in Krankenhäusern tun, weil sie auf den Nachtzuschlag angewiesen sind. Und derer, die ohne Obdach schlafen, immer auf der Hut, vertrieben oder angegriffen zu werden.
Genau betrachtet, ist das einzig Unveränderliche am Schlaf das grundsätzliche Bedürfnis danach. Würden wir Menschen des 17. Jahrhunderts in unsere Wohnungen führen, stünden sie sprachlos vor den vielen Schlafzimmern: eigene Betten für die Kinder, getrennte für die Ehepartner, all das wäre ihnen unverständlich. Was für eine Verschwendung von Wärme! Und wie ist es möglich, dass sich jemand so viele Betten leisten kann? Und wir? Zurückkatapultiert um 200 Jahre, stünden wir irritiert vor den unbekümmert am helllichten Tag Schlafenden, den Arbeitern, die sich mit einem Nickerchen auf dem Feld ausruhen.
In jüngster Zeit macht das Nickerchen allmählich als Powernap Karriere, den müde Büroarbeitende in Ruheräumen oder in futuristisch anmutenden Röhren halten können, um ihre Arbeitskraft wiederherzustellen. Doch bislang setzen sich weder die Röhren noch die Ruheräume in großem Maße durch. Das mag daran liegen, dass Schlaf genau das mit sich bringt, was der moderne Mensch scheut wie wenig anderes: Kontrollverlust. Den gilt es in der Öffentlichkeit unbedingt zu vermeiden. Ich hatte einmal einen Freund, der mit mir das Spiel »der hässliche Schläfer« spielte. Dazu lehnte er sich tief in seinen Stuhl und sekundenschnell entglitt ihm sein Gesicht. Kein Wunder, dass die omnipotenten Geschäftsleute nur in der Anonymität eines ICEs einschlafen, wenn kein Kollege sehen kann, wie sie sich aus einer Fleisch gewordenen Geschäftsidee verwandeln in erschöpfte Menschlichkeit. Der Schlafende ist verletzlich, sozial, aber auch körperlich, das weiß auch der Überrest Primat in uns, der sich eigentlich auf ein Nest in den Bäumen zurückziehen würde.
Es ist paradox: Im Schlaf verlieren wir die Macht über uns, zugleich haben Folterknechte aller Zeiten bis in die Gegenwart versucht, Macht über andere zu erlangen, indem sie ihnen den Schlaf nahmen. Schlafentzug gehörte noch in den Lagern von Guantánamo und Abu Ghraib zu den Foltermethoden und führt bei den Gefangenen zu einem Zustand der Verwirrung und Erschöpfung, in dem sie leichter gestehen – gleichgültig, ob es stimmt oder nicht.
Verachtet, verhindert, gefürchtet – trotz oder gerade wegen seiner Ambivalenz hat der Schlaf nie seine Faszination verloren. Wir gehorchen dann Gesetzen, die uns selbst nicht zugänglich sind; wir betrachten ein schlafendes Gegenüber, das unendlich nah und unendlich fern zugleich ist. Die Schlafenden begeben sich auf eine Reise, deren Ziel sie nicht kennen und auf die sie niemanden mitnehmen. Und wenn wir träumen, überwinden wir die letzten Grenzen: Physikalische Gesetze, Raum und Zeit gelten nicht mehr. Wir treffen die Toten, wir fallen ins Bodenlose, wir fliegen. Träume, das Ungreifbare des ohnehin ungreifbaren Schlafs, können Geschenk wie Fluch sein.
Wir haben uns abgewöhnt, sie als Botschaften der Götter zu sehen, stattdessen dienen sie uns als Hinweis auf unser eigenes Seelenleben, dem wir größeres Interesse schenken. Wenn wir nicht ohnehin denjenigen Wissenschaftlern glauben, die in Träumen nichts als sinnlose Abfallprodukte neuronaler Aktivitäten sehen. Die Schlafwissenschaft hat unseren Blick auf den Schlaf verändert, wir können die Schlafphasen I bis IV herunterbeten, sorgen uns um die Tiefschlafanteile, die wir dank neuer Apps genau verfolgen können. Siehe da, auch die Frage, wie gut man schläft, lässt sich in einer Welt findiger Geschäftsleute und williger Konsumenten zu einer Ausstattungs- und Überwachungsaufgabe umdeuten. Schlaf, das ist ein letztes Puzzleteil geworden in der unnachsichtigen Straffung und Optimierung unseres Lebens. Wir weisen ihm einen Verschlag zu, in dem er genau überwacht seinen Beitrag zum Erhalt unserer Produktivkräfte leisten soll.
Bevor er tatsächlich darin verschwindet, soll dieses Buch einen Blick darauf werfen, welche Gestalten der Schlaf annehmen kann: im Wandel der Zeit, in verschiedenen Kulturen, kommerzialisiert, medikamentisiert – und schließlich auch verteidigt als eine Bastion der Freiheit.
Sechs Fragen zum Schlaf und nur vier Antworten
Was ist Schlaf?
Einfach gesagt: Schlaf ist ein Zustand mit herabgesetztem oder gänzlich fehlendem Bewusstsein und ebenso reduzierter Aktivität.
Wozu ist er gut?
Das ist in den Details bis heute umstritten. Konsens ist, dass Schlaf wichtig für die Arbeit des Gedächtnisses ist: Die tagsüber aufgenommenen Eindrücke werden gesichtet, sortiert und die wichtigen im Langzeitgedächtnis gespeichert. Wobei bereits hier die Lehrmeinungen auseinander gehen: Es gibt auch die These, dass vor allem Informationen gelöscht werden. Nicht wissenschaftlich nachgewiesen ist die Theorie, dass sich im Schlaf Organe, Nervenzellen und das Immunsystem regenerieren.
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